Weshalb Kinder Bewegung brauchen

Kinder brauchen Bewegung

Wie Eltern gute Voraussetzungen für die Bewegungsentwicklung schaffen können, erklärt Daniel Jucker-Keller im Interview.

Daniel Jucker-Keller, Dozent für Psychomotoriktherapie an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich

Welche Faktoren beeinflussen die motorische Entwicklung?

Kinder brauchen eine anregungsreiche Umgebung, in der es sich lohnt, sich zu bewegen. Erblickt ein Baby zum Beispiel einen Ball, der ausserhalb seiner Reichweite auf dem Boden liegt, wird es versuchen, dorthin zu gelangen. Würden ihm die Eltern den Ball einfach in die Hand geben, wäre der Anreiz, ihn aus eigener Kraft zu erreichen, nicht mehr da.
Kinder haben einen natürlichen Drang, sich zu bewegen. Erwachsene müssen ihnen Bewegungen nicht vormachen, ihnen aber Zeit und Raum geben, eine Bewegung im eigenen Tempo zu üben, ohne zu denken, dass ihr Kind dieses oder jenes schon können müsste. Auf dem Boden liegend trainiert das Kind zum Beispiel seine Haltemuskulatur intensiv. Manche Erwachsene meinen aber, dass Sitzen das Ziel sei, und setzen es daher zu früh auf einen Stuhl. Dadurch verunmöglichen sie dem Kind die Erfahrung, selbständig – vorerst auf dem Boden – sitzen zu lernen. Erwachsene sollen staunen und sich über die Entwicklungsschritte ihres Kindes freuen, ohne dabei zu glauben, etwas forciert fördern zu müssen.
Um sich motorisch gut zu entwickeln, sind Babys und Kleinkinder auf Bezugspersonen angewiesen, die ihr Bedürfnis nach Nähe befriedigen, auf sie eingehen, ihre Signale wahrnehmen, sie auch mal hochheben, um ihnen den Blick auf die Umgebung aus einer anderen Perspektive zu ermöglichen, aber auch akzeptieren, wenn sie etwas allein ausprobieren oder sich einfach zurückziehen wollen.

Welche Rolle spielt die Psyche des Kindes bei der motorischen Entwicklung?

Die Psyche hat einen grossen Einfluss. Kinder wollen sich als selbstwirksam erleben, sie wollen selber forschen, sie wollen die Kompetenz auskosten, etwas festzuhalten und wieder loszulassen, etwas aufzubauen und wieder zu zerstören. Interpretieren die Eltern es aber als Zerstörungswut, wenn ihr Kind einen eben erst aufgebauten Turm umwirft, und schimpfen sie deswegen sogar mit ihm, kann sich eine Fehlentwicklung anbahnen. Das Kind lernt so, dass es sich nicht lohnt, Initiative zu entwickeln, weil es deswegen die Zuneigung der Eltern verliert.
Wenn Eltern ihr Kind aus Furcht vor Verletzungen ständig bremsen und zum Beispiel nicht auf einem Baumstamm balancieren lassen oder auf dem Spielplatz auf alle Gefahren hinweisen, tun sie ihm keinen Gefallen. Es wird sich bald nicht mehr trauen, irgendwo hochzuklettern. Solche Kinder können sich später nicht ungehemmt bewegen. Zudem verletzen sie sich besonders oft, weil sie sich weniger geschickt anstellen als Gleichaltrige mit einem grossen Bewegungsrepertoire.

Wie sollen Eltern reagieren, wenn dem Kind mal etwas misslingt?

Wenn ein Kind zum Beispiel hinfällt oder ein Glas umschubst, ist Gelassenheit gefragt. So nimmt es sein Missgeschick als etwas Normales wahr. Ungünstig sind moralisierende Reaktionen wie «Da hättest du halt aufpassen müssen!». Weint ein Kind nach einem Sturz, sollten die Eltern sich vor der – tröstlich gemeinten – Aussage «Das ist doch nicht so schlimm!» hüten. Damit würden sie seine Gefühle nicht ernst nehmen.
Ebenfalls problematisch ist es, aufgrund von Missgeschicken Verbote auszusprechen. Ein Kind, das bis zum Kindergarten nicht mehr mit Stiften hantieren darf, weil es mit zwei Jahren die Tapete vollgekritzelt hat, wird in der Schule Mühe haben, schreiben zu lernen.

Welche Umgebung fördert die Bewegungsentwicklung besonders gut?

Die Natur regt dazu an, sich zu bewegen. Im Freien können Kinder eine vielfältige Welt entdecken. In der Wohnung sind die Böden eben und stellen keine Herausforderung dar. Auf dem unebenen Waldboden hingegen muss sich das Kind immer wieder anders aufrichten und mit der Schwerkraft zurechtkommen. Klar kann man auch in der Wohnung Bewegungslandschaften einrichten – diese bieten aber deutlich weniger Lernmöglichkeiten als die Natur. Oft halten Eltern ihre Kinder drinnen auch zurück, um Probleme mit Nachbarn zu vermeiden.

Aber nicht alle Familien wohnen in der Nähe eines Waldes.

Ja, aber auch in bebauten Gebieten gibt es unzählige Möglichkeiten, wie Kinder motorisch viel lernen können. Eine Treppe lädt zu Hüpfspielen ein, ein Mäuerchen zum Balancieren und ein Hydrant zum Klettern. Wichtig ist, dass die Eltern realisieren, dass man mit Kindern nicht einfach von A nach B marschieren muss, sondern unterwegs mit etwas Fantasie auch in Wohnquartieren viel Bewegung in den Alltag einbauen kann.

Welchen Einfluss hat die motorische Entwicklung auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Psyche des Kindes?

Durch eine gute fein- und grobmotorische Entwicklung werden die kognitive und die soziale Entwicklung gefördert. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Greifen und Begreifen. Wenn ein Kind etwas mit allen Sinnen erfahren kann, verankert sich dieses Wissen besser, und es kann zu einem späteren Zeitpunkt eher darauf zurückgreifen. Eine gute motorische Entwicklung wirkt sich später positiv auf die schulischen Leistungen aus. Sie steigert das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl. In der Schule sind Kinder, die sich gut bewegen können, beliebter als ungeschickte.

Weshalb ist es wichtig, dass Kinder möglichst schon im Vorschulalter viele Bewegungsformen erlernen?

Je jünger ein Kind ist, desto wichtiger ist Bewegung. Es erlernt neue Bewegungen auf den Grundlagen von bereits bekannten Bewegungen. Ein Kind, das nie gelernt hat, seinen Rücken gegen die Schwerkraft aufzurichten und stabil zu sitzen, wird später auch Mühe mit dem Schreiben haben.
Für verschiedene Bewegungen gibt es optimale Zeitfenster. Die grosse Kunst ist es, diese nicht zu verpassen. Kinder, die im Vorschulalter nie einen Abhang hinuntergerollt sind und noch nie einen Purzelbaum geschlagen haben, dies nun aber in der Primarschule lernen sollen, haben Schwierigkeiten damit.

Ist Sport im Vorschulalter sinnvoll?

Nein, ich habe grosse Vorbehalte gegenüber Sportprogrammen im Vorschulalter. In diesem Alter brauchen Kinder keinen Kurs, um sich zu bewegen. Sie bewegen sich, weil sie etwas Spannendes erleben wollen. In der frühen Kindheit geht es nicht um die Förderung von Sport, sondern darum, Kindern eine möglichst grosse Vielfalt an Bewegungen zu ermöglichen.

Weitere Informationen

 

Gesundheitsförderung Schweiz und das Bundesamt für Sport BASPO geben die Broschüre «Gesundheitswirksame Bewegung bei Säuglingen, Kleinkindern und Kindern im Vorschulalter» heraus.
Ausserdem finden Sie auf www.gesundheitsfoerderung.ch Broschüren mit Bewegungstipps für Kinder mit den Eltern abgestuft nach Alter in diversen Sprachen:

0 bis 9 Monate
9 bis 18 Monate
18 bis 2.5 Jahre
2.5 bis 4 Jahre

Info

Viel Bewegung fördert

  • die Gesundheit Ihres Kindes
  • seine kognitive Entwicklung
  • seine sozialen Kompetenzen
  • seine Geschicklichkeit
  • seine Zufriedenheit und Ausgeglichenheit
  • sein Selbstvertrauen und sein Selbstwertgefühl
Filed under: deutsch, Entwicklung

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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.