Notfall – ja oder nein?

Emergenza o no?

Immer mehr Eltern suchen mit ihrem Kind die Notfallstation auf – ein Trend mit Folgen.

Alle Kinderspitäler in der Schweiz verzeichnen eine Zunahme von Notfallkonsultationen. Das Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen behandelt heute rund doppelt so viele Kinder in der Notfallstation als noch vor zehn Jahren. Immer häufiger suchen Eltern auch abends oder nachts ein Kinderspital auf. «Heute ist unsere Notfallabteilung zwischen 23 und 3 Uhr morgens so voll wie tagsüber», erzählt Dr. Ivo Iglowstein, Co-Leiter des Notfalls am Ostschweizer Kinderspital. Für diese Entwicklung sieht er verschiedene Gründe: «Einerseits hat sich unsere Gesellschaft verändert. Die meisten Kinder wachsen in Kleinfamilien auf. Die Eltern profitieren kaum mehr vom Wissen der Grosseltern, wenn ihr Kind krank ist, sehen sich aber im Internet mit Unmengen an Informationen konfrontiert, die sie oft zusätzlich verunsichern. Andererseits ist die Arbeitswelt anspruchsvoller geworden, so dass sich viele berufstätige Eltern nicht mehr trauen, mit ihrem Kind tagsüber zum Arzt zu gehen. Manche Eltern kennen das Hausarztsystem nicht und melden sich deshalb direkt bei uns. Aufgrund des Ärztemangels finden nicht mehr alle Familien einen Kinder- oder Hausarzt.» Viele Kinderspitäler haben ihr Angebot der gestiegenen Nachfrage angepasst. Das Ostschweizer Kinderspital betreibt wie viele andere Kinderspitäler heute eine telefonische Beratungshotline und zusätzlich zur regulären Notfallstation eine Kinder-Notfall-Praxis.

Keine wirklichen Notfälle

Ein beachtlicher Teil der im Notfall des Ostschweizer Kinderspitals behandelten kleinen Patienten kommt mit Problemen, die auch vom Kinder- oder Hausarzt behandelt werden könnten. Dazu zählen zum Beispiel Atemwegsinfekte, Zecken- oder Mückenstiche, Verstauchungen oder Bauchschmerzen aufgrund einer Verstopfung. Dr. Ivo Iglowstein erklärt: «Heute sind leider viele Eltern nicht mehr bereit, zu warten und für den nächsten Tag einen Termin beim Kinder- oder Hausarzt auszumachen. Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, alles jederzeit und sofort online bestellen zu können. Diese Entwicklung macht auch vor den Ansprüchen an die Medizin nicht halt. Verständlicherweise sind die praktizierenden Kinder- und Hausärzte heute nicht mehr bereit, auch wegen Bagatellen rund um die Uhr für ihre Patienten da zu sein.»

Lange Wartezeiten

Notfallstationen müssen bei jedem Kind eine Erstbeurteilung machen, um einen schwerwiegenden Zustand sofort zu erkennen. Am schnellsten müssen Kinder behandelt werden, bei denen Atmung, Atemwege, Kreislauf oder Bewusstsein beeinträchtigt sind, die sich grossflächige Verbrennungen zugezogen haben und an extrem starken Schmerzen leiden. Kinder, die auf sofortige medizinische Massnahmen angewiesen sind, werden unverzüglich behandelt. Bis Kinder mit einem nicht sehr dringlichen Problem, zum Beispiel einem Schnupfen oder einer Verstauchung, an die Reihe kommen, kann es längere Zeit dauern, vor allem nachts, wenn weniger Personal zur Verfügung steht.
Kinderspitäler bilden auch auf Notfallstationen angehende Kinderärztinnen und -ärzte sowie Pflegefachkräfte aus. Ivo Iglowstein dazu: «So sichern wir die Versorgung der Kinder auch für die Zukunft. Allerdings verlangsamen sich die Abläufe im Vergleich zur Behandlung in einer Kinder- oder Hausarztpraxis dadurch zusätzlich.» Nur vereinzelt haben Eltern kein Verständnis für die langen Warte- und Aufenthaltszeiten und werden ungeduldig.

Vertrauensverhältnis

Jedes Kind sollte einen Kinder- oder Hausarzt haben. Dieser kann im Gegensatz zu einem Notfallarzt eine langfristige Beziehung zum Kind und zu seinen Eltern aufbauen. Er kann bei Bagatellfällen helfen und beurteilen, wann ein Kind auf die notfallmässige Betreuung im Spital angewiesen ist. Gerade wenn die Beschwerden einen psychosomatischen Hintergrund haben, ist ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Arzt wichtig, um die geeignete Therapie zu finden. Das ist in einer Notfallstation nicht möglich, weil das Kind dort immer wieder auf andere Ärzte treffen würde. Zudem fehlt es Notfallärzten an Zeit für Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen des Kindes.

Notfall erkennen

Ob ein Kind notfallmässig behandelt werden muss, hängt nicht zuletzt von seinem Alter, seinen Grunderkrankungen und seinem Impfstatus ab. Ivo Iglowstein warnt: «Ungeimpfte Kinder leben gefährlicher, weil sie sich mit Krankheiten anstecken können, die potenziell lebensbedrohlich sind.»

Erkältung und Fieber

Viele Eltern suchen die Notfallstation auf, weil ihr Kind an einer Erkältung leidet und Fieber hat. In der Regel braucht es jedoch in den ersten zwei, drei Tagen einer solchen Erkrankung keine ärztliche Behandlung, wenn sein Allgemeinzustand sonst gut ist. «Fieber ist prinzipiell nichts Schlechtes – im Gegenteil, es unterstützt die Immunabwehr», erklärt Dr. med. Alison Somerville, Co-Leiterin der Notfallstation am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Säuglinge mit Fieber, vor allem jene unter drei Monaten, sollten aber sehr bald ärztlich untersucht werden, da sie oft nicht die typischen Symptome zeigen wie ältere Kinder und die Kommunikation mit ihnen nur sehr beschränkt möglich ist. Für die Beurteilung des Schweregrades einer fiebrigen Erkrankung braucht es bei dieser Altersgruppe viel Erfahrung.
Wenn ein Kind mit Fieber schlecht trinkt oder auf Umgebungsreize, zum Beispiel auf Ansprache oder Berührung, schreckhaft oder kaum reagiert, kann das ein alarmierendes Anzeichen für eine ernsthafte Erkrankung sein. Auch bei schneller oder angestrengter Atmung ist es auf ärztliche Behandlung angewiesen. Laut Alison Somerville sind viele Eltern in der Lage, einzuschätzen, wie schlecht es ihrem Kind geht: «Der Grad der Besorgnis der Eltern sollte daher bei der ärztlichen Beurteilung des Kindes berücksichtigt werden.»
Zeigt ein über drei Monate altes Kind mit Fieber keins der oben genannten Alarmzeichen, können sich besorgte Eltern von einer Helpline, wie sie heute von den meisten Kinderspitälern angeboten wird, beraten lassen, wenn ihr Kinder- oder Hausarzt nicht erreichbar ist.
Leidet ein Kind mit hohem Fieber an Nackenschmerzen oder Nackensteifigkeit, muss es baldmöglichst einer Ärztin oder einem Arzt vorgestellt werden. Es könnte an Meningitis erkrankt sein und muss für die weitere Diagnostik und die Therapie in der Regel im Spital versorgt werden.

Erbrechen und Durchfall

Leidet ein Kind an leichten Bauchschmerzen ohne Fieber und ohne heftiges Erbrechen, braucht es nicht unmittelbar eine ärztliche Behandlung. Wenn es mehrmals erbricht und/oder Durchfall hat, nichts mehr zu sich nehmen bzw. bei sich behalten kann, keinen Urin mehr löst, nicht mehr spielen mag, seine Augen stark eingesunken, seine Schleimhäute trocken und keine Tränen mehr vorhanden sind, muss es in die Notfallaufnahme, weil eine (mittel-)schwere Dehydration vorliegt. Alison Somerville erklärt: «Je jünger das Kind, desto schneller droht es auszutrocknen.»

Haut

Insektenstiche, selbst wenn sie zu einer lokalen Schwellung und Rötung der Haut führen, sind kein Grund für das Aufsuchen einer Notfallstation. Hier helfen antiallergische Tropfen oder Gels. Anders sieht es aus, wenn es nach einem Stich zu weiteren allergischen Reaktionen kommt. Dr. med. Petros Ioannou von der Kinderpermanence Swiss Medi Kids in Zürich erklärt: «Dazu zählen eine starke lokale Schwellung, ein Hautausschlag (Urtikaria), Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Atemprobleme oder Kreislaufsymptome. In diesem Fall sollten die Eltern ihr Kind sofort zum Arzt bringen. Dasselbe gilt auch, wenn das Kind in den Mund, ins Gesicht oder in den Hals gestochen wurde.» Ein Zeckenstich hingegen ist kein Grund für einen Arztbesuch. Zecken entfernt man baldmöglichst mit einer Zeckenzange oder von Hand, dann desinfiziert man die betroffene Hautstelle und beobachtet sie in den folgenden Tagen.
Eine notfallmässige Behandlung brauchen Babys und Kleinkinder, wenn sie sich am Körper grossflächig oder im Gesicht, an den Handflächen, an den Genitalien oder kreisförmig, zum Beispiel um den Arm herum, verbrannt oder verbrüht haben und sich Blasen bilden. «Bisswunden, von Tier oder Mensch verursacht, und weit auseinanderklaffende Schnitte, die tiefer als einen halben Zentimeter gehen, sowie Schnitte im Bereich von Augen, Ohren oder Lippen müssen innert sechs Stunden ärztlich versorgt werden», weiss Dr. med. Petros Ioannou. Ist der Kinderarzt oder der Hausarzt nicht erreichbar, muss das Kind in einer Kinderpermanence oder in der Notfallstation eines Spitals behandelt werden.
Weist die Haut eines kranken und apathischen Kindes, das berührungsempfindlich oder lichtscheu ist, plötzlich viele rote und blaue Punkte auf, die sich nicht wegdrücken lassen, muss es sofort in die Notfallstation eines Kinderspitals gebracht werden. Diese sogenannten Petechien können zum Beispiel bei Kindern auftreten, die an einer Blutvergiftung leiden.

Stürze

Wenn ein Baby oder ein Kleinkind aus einer Höhe stürzt, die seine Körpergrösse überschreitet, und nach dem Sturz länger als eine halbe Minute bewusstlos ist, muss es sofort ins Spital gebracht werden. Wird darauf verzichtet, sollen die Eltern ihr Kind in den nächsten 24 Stunden gut beobachten. Erbricht es, ist es verwirrt, leidet es an Schwindel, hat es starke Schmerzen oder erwacht es nachts deswegen, spricht es nicht auf Schmerzmittel an, entwickelt es eine grosse Beule oder tritt Blut oder klare Flüssigkeit aus Nase oder Ohren aus, muss das Baby respektive das Kleinkind ins Spital gebracht werden.

Gut beobachten

Ivo Iglowstein wird in seinem Beruf einerseits mit verängstigten Eltern konfrontiert, die aus medizinischer Sicht nicht die Notfallstation hätten aufsuchen müssen. Andererseits trifft er auch immer wieder auf Eltern, die dies spät oder sogar zu spät tun. Manche Eltern wiegen sich nach der ersten ärztlichen Konsultation in Sicherheit und erkennen nicht, wenn der Gesundheitszustand ihres Kindes sich verschlechtert. Der Notfallarzt erklärt: «In unserer Notfallstation versuchen wir den Eltern immer zu erklären, auf welche Veränderungen sie in den nächsten Stunden und Tagen achten müssen. Sie müssen in der Lage sein, eine Verschlimmerung des Zustandes zu erkennen, um ihr Kind zur richtigen Zeit am richtigen Ort vorzustellen.»

Tipps
Ihr Kind muss in die Notfallstation, wenn

  • sein Allgemeinzustand sehr schlecht ist (wenn es apathisch ist und wenig Reaktion zeigt)
  • es bewusstlos ist
  • es keinen Puls hat
  • es unter Atemnot leidet
  • es sich am Körper grossflächig oder im Gesicht, an den Genitalien oder an den Händen (mit Blasenbildung) verbrannt oder verbrüht hat
  • es in den ersten drei bis sechs Lebensmonaten Fieber hat und der Kinder- oder Hausarzt nicht erreichbar ist
  • es Fieber hat und berührungsempfindlich oder lichtscheu ist oder sich auf der Haut rote Flecken bilden, die sich nicht wegdrücken lassen
  • es an akuten Hodenschmerzen leidet
  • es einen epileptischen Anfall hat, der länger als 3–5 Minuten dauert
  • es nach einem Sturz auf den Kopf stark verwirrt ist
    nach einem Unfall Verdacht auf schwerwiegende Verletzungen (z.B. Wirbelsäule) besteht
  • es an Nackensteifigkeit leidet und sein Kinn nicht mehr zum Brustbein hin bewegen kann

Tipps
Das sind keine Notfälle

  • Ein paar Beispiele:
  • Mückenstiche
  • Zeckenstiche
  • Fieber, wenn das Kind älter als sechs Monate ist
  • Verstauchungen und Prellungen
  • Husten (dauert er länger als drei Tage an und hat das Kind Fieber, das sich nicht senken lässt, sollte es zum Kinder- oder Hausarzt)
  • Schnupfen
  • Halsschmerzen
  • Kopfschmerzen (ausser wenn das Kind den Kopf nicht mehr zum Brustbein neigen kann)
  • Magen-Darm-Grippe (ausser das Kind ist [mittel-]schwer dehydriert
  • Blasenentzündung