Mobbing im Kindergarten

Konflikte gehören zur normalen Entwicklung von Kindern – Mobbing hingegen nicht. Ein Gespräch mit der Mobbing-Expertin Françoise Alsaker und dem Psychologen Fabian Grolimund.

Können schon vier-, fünfjährige Kinder mobben?

F.A.: Ja, das konnte ich in mehreren wissenschaftlichen Studien belegen. Wichtig ist die Erkenntnis, dass Mobbing in diesem Alter nichts mit «bösen Absichten» zu tun hat. Deshalb bringen moralische Denkweisen hier nichts. Beim Mobbing geht es um Belohnung. Mobbing lohnt sich für diejenigen, die mobben. Wenn ein Kind in der Gruppe merkt, dass es mit aggressivem Verhalten etwas erreichen kann und dafür nicht bestraft wird, macht es weiter, wenn es nicht von Erwachsenen gestoppt wird.

Prof. em. Françoise Alsaker, Institut für Psychologie an der Universität Bern

Ist Mobbing in Kindergärten heute häufiger zu beobachten?

F.A.: Das kann man so nicht sagen. Mobbing gab es auch früher schon, aber man schaute damals eher weg. Heute ist man viel aufmerksamer und auf das Thema sensibilisiert. Viele Eltern nehmen ihr Kind heute ernst, wenn es geplagt wird. Trotzdem werden in Schweizer Kindergärten und Schulen immer noch viele Kinder gemobbt, ohne dass jemand einschreitet. Interessant ist übrigens die Tatsache, dass Mobbing häufiger in Kindergärten auftritt, die Kindern viel unstrukturierten Freiraum bieten.

Wie reagieren Kinder auf Mobbing?

F.G.: Das hängt vom Kind ab. Es gibt Kinder, die sich aus Angst zurückziehen. Manche versuchen das Mobbing zu ignorieren, weil ihnen die Eltern dies empfohlen haben, was jedoch meist nicht funktioniert. Andere reagieren aggressiv, setzen sich oft unverhältnismässig zur Wehr und werden nicht selten dafür bestraft. Einige holen sich Hilfe. In einer Mobbing-Situation gibt es meist kein richtiges Verhalten: Egal was das Kind tut – die anderen finden immer einen Grund, weiterzumachen.

Welche Kinder werden eher zu Tätern, welche zu Opfern?

F.A.: Hier gibt es kein klares Fazit. Jedes Kind kann zum Opfer werden. Tendenziell werden Kinder, die zu unkontrollierter Aggressivität neigen, sich leicht provozieren lassen und nicht so viele Freunde haben, häufiger zu «Opfern». Oft sind Kinder mit ADHS betroffen. Vor Mobbing ist kein Kind gefeit. «Täter» müssen über ein gewisses aggressives Potenzial verfügen. Sie sind meist sozial kompetent, wissen, was in der Gruppe passiert, können andere gut manipulieren und haben wenig Mitgefühl. Wenn es diesen Kindern gelingt, Mitläufer zu finden, und die Erwachsenen wegschauen, kann Mobbing entstehen.

Fabian Grolimund, Psychologe, Leiter der Akademie für Lerncoaching in Zürich

Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind im Kindergarten gemobbt wird?

F.A.: Wenn es sich plötzlich anders verhält oder an Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen leidet, mit beschädigten Sachen nach Hause kommt oder immer wieder Dinge verliert. Auf keinen Fall sollten Eltern ihr Kind beim Verdacht auf Mobbing verhören, sondern vorsichtig nachfragen, was im Kindergarten geschehen ist, mit wem es dort spielt, wie es ihm dort geht.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn ihr Kind gemobbt wird?

F.G.: Auf keinen Fall sollten sie mit Äusserungen reagieren, die nach Vorwürfen klingen, wie zum Beispiel: «Warum hast du dich nicht gewehrt?» oder «Weshalb hast du dich nicht an die Kindergärtnerin gewandt?» Auch leichtfertig geäusserte Sätze wie «Ist doch alles nicht so schlimm!» oder die Frage «Was hast du gemacht, dass die anderen dich so behandelt haben?» sind nicht angebracht. So muss das Kind sich für die Situation rechtfertigen, es fühlt sich beschämt und alleingelassen. Es wird dann nicht mehr von weiteren Mobbing-Attacken erzählen und zieht sich auch von den Eltern zurück.
F.A.: Diese Reaktionen blocken die Kommunikation ab. Wenn ein Kind seinen Eltern etwas mit Unbehagen erzählt, sollten sie ihm gut zuhören und genau hinschauen. Grundsätzlich empfehle ich Eltern, sich regelmässig mit der Betreuerin in der Kita oder der Lehrperson über ihr Kind auszutauschen, nicht erst, wenn es Probleme gibt.

Manche Eltern wollen das Mobbing beenden, indem sie den «Täter» und dessen Eltern damit konfrontieren. Ist das klug?

F.G.: Die Familie des «Täters» mit dessen Verhalten zu konfrontieren, verschlimmert meist die Situation für das gemobbte Kind. Viele Eltern können sich nicht vorstellen, dass ihr kleiner Sonnenschein zu so gemeinen Taten fähig ist, und weisen bereits den Gedanken daran entrüstet von sich oder suchen die Schuld beim Opfer.

Weshalb wehren sich einige Eltern nicht für ihr Kind?

F.G.: Weil sie die Situation falsch einschätzen und sich sagen, dass es halt nur Kinder sind. Manche sehen eine Mitschuld beim eigenen Kind, weil es keinen «einfachen Charakter» hat, oder sie haben Angst, die Situation zu verschlimmern oder als aufdringlich zu gelten.
Viele Eltern wissen zu wenig darüber Bescheid, was vor sich geht. Manche Eltern resignieren aber auch, weil niemand genauer hinschauen und die Verantwortung übernehmen will.

Können Eltern etwas dafür tun, dass ihr Kind nicht mobbt und auch nicht zum Mitläufer wird?

F.A.: Ja, indem sie versuchen, ihrem Kind ein gutes Vorbild zu sein, denn Kinder lernen, indem man ihnen etwas vorlebt und nicht nur darüber spricht. Kinder müssen generell lernen, ihre Aggressionen im Zaum zu halten, und Eltern müssen klar Stellung gegen Mobbing beziehen und ihrem Kind das auch mitteilen.
Damit Kinder nicht zu Mitläufern werden, müssen sie lernen, nein zu sagen. Das braucht Mut, schützt aber das Kind nicht nur vor Missbrauch, sondern zum Beispiel auch davor, sich später delinquenten Gruppen von Jugendlichen anzuschliessen.
Die Erziehung kann einen sehr grossen Beitrag zur Prävention von Mobbing leisten!

Wie sollen sich Eltern verhalten, wenn ihr Kind mobbt?

F.G.: Hier empfehle ich das offene Gespräch mit dem Kind. Eltern sollten herauszufinden versuchen, welche Motive dahinterstecken, welche Rolle ihr Kind spielt. Will es einfach dabei sein, oder hat es Angst, selber dranzukommen, wenn es nicht mitmacht? Auf keinen Fall sollten die Eltern ihr Kind bestrafen. Dadurch würden sich die Ressentiments gegenüber dem «Opfer» nur verstärken. Viel wichtiger ist es, Empathie für das gemobbte Kind zu wecken. Ein «Täter» oder «Mitläufer» muss verstehen, dass das «Opfer» seinetwegen leidet. Die zentrale Frage ist jetzt: Was kannst du machen, damit es dem Kind wieder bessergeht? Manchmal hilft auch ein Buch oder ein Film zum Thema.

Wie können Eltern ihr Kind vor Mobbing schützen?

F.A.: Das ist nicht so einfach, weil die Risikofaktoren nicht primär beim Kind zu finden sind, sondern im sozialen Umfeld. Grundsätzlich müssen Kinder wissen, dass das «Opfer» nicht schuld am Mobbing ist, auch wenn die Mobber ihm dieses Gefühl geben.
Wichtig ist, dass das Kind weiss, dass es mit seinen Eltern darüber sprechen kann. Die Eltern sollen ihm eine eigene Meinung zugestehen, und es soll von klein auf lernen, nein zu sagen. Zudem können sie es dabei unterstützen, Freundschaften zu festigen, indem sie zum Beispiel andere Kinder zu sich nach Hause einladen oder mit ihrem Kind und einem Gspänli etwas unternehmen. Wenn ein Kind gute Freunde hat, wird es tendenziell seltener zum «Opfer» – allerdings bietet dies keinen hundertprozentigen Schutz. Auch gut integrierte Kinder können zu Mobbingopfern werden.

Welche Vorgehensweise empfehlen Sie, wenn im Kindergarten ein Kind gemobbt wird?

F.G.: Eltern und Lehrpersonen müssen Kinder ernst nehmen und dürfen die Vorfälle nicht bagatellisieren. Sie müssen lernen, Mobbing zu erkennen und von Konflikten zu unterscheiden, und klar Stellung beziehen, dass jedes Kind das Recht darauf hat, sich im Kindergarten wohlzufühlen. Als sehr wirksam hat sich der «No Blame Approach» (Herangehensweise ohne Schuldzuweisung) erwiesen, bei dem es nicht darum geht, den «Täter» oder die «Mitläufer» für ihr Verhalten zu verurteilen, sondern darum, eine Lösung für die Situation zu finden. Einerseits sucht die Lehrperson das Gespräch mit dem vom Mobbing betroffenen Kind, andererseits bildet sie mit einem Teil der Klasse eine Helfergruppe, die aus dem «Täter», aus «Mitläufern» und unbeteiligten Kindern besteht. Dieser Gruppe schildert sie in Abwesenheit des «Opfers», dass es diesem nicht gutgeht und sie die Hilfe der Gruppe braucht, damit es sich wieder wohlfühlt. Ziel ist das Wecken von Empathie bei den Kindern und die Veränderung ihrer Rollen. Die Kinder sollen nicht als «Täter» oder «Mitläufer», sondern als Helfer angesprochen werden.

Wie lässt sich Mobbing im Kindergarten verhindern?

F.A.: Mobbing ist ein Gruppenphänomen und erfordert ein Publikum, das Mobbing zulässt. Deshalb muss die Lehrperson die ganze Gruppe in die Prävention involvieren, mit den Kindern über Mobbing und das Zusammensein in der Gruppe reden, Regeln zum Umgang miteinander diskutieren und die Kinder Verträge miteinander abschliessen lassen. Die meisten Kinder möchten, dass es im Kindergarten friedlich zu und her geht, und sind durchaus in der Lage, Vereinbarungen mit anderen zu treffen und sich daran zu halten. Wenn die Kindergärtnerin danach regelmässig mit den Kindern bespricht, wie es in der Gruppe und mit den Vereinbarungen geht, verbessert sich der Umgang mit Aggressionen und nicht zuletzt auch die Stimmung. Ich empfehle, an diesem Thema dranzubleiben. Das kostet zwar am Anfang ein bisschen Zeit, aber deutlich weniger, als zum Beenden von Mobbing notwendig wäre.

Info
Mobbing

Mobbing ist ein Gruppenphänomen. Von Mobbing spricht man, wenn ein Kind systematisch von einer Gruppe von Kindern auf verschiedene Arten geplagt wird. Es handelt sich dabei nicht um einen Streit um «etwas», sondern es geht lediglich darum, das «Opfer» zu erniedrigen, auszuschliessen oder zu verletzen. Mobbing ist immer von einem Kräfteungleichgewicht gekennzeichnet.

Gute Frage?
Weshalb ist es für unbeteiligte Kinder so schwer, bei Mobbing einzugreifen?

Die meisten Kinder haben Angst, selber dranzukommen, und glauben, allein nichts unternehmen zu können. Beim Mobbing sind die Zuschauer nicht in der Lage, sich zu organisieren. Jene Kinder, die einschreiten, geben aus Angst schnell auf. Kindern fehlt es auch an Wissen. Sie wissen nicht, wie man Mobbing stoppen kann. Erzählt ein Kind zu Hause, dass es Mobbing beobachtet hat, sollen die Eltern nicht von ihm verlangen, dass es etwas unternimmt. Sie können sich aber bei der Lehrperson melden, auch wenn ihr Kind selbst nicht vom Mobbing betroffen ist.

Buchtipp

Mutig gegen Mobbing: in Kindergarten und Schule. Françoise D. Alsaker, Verlag Hans Huber, 2012.

Webtipp

Zwei Filme über Mobbing von der Akademie für Lerncoaching finden Sie auf www.biber-blog.com.

Mobbing im Kindergarten: Merkmale & Vorgehen (8 Tipps) (starkauchohnemuckis.de)