Die Brüllfalle

Eltern wollen entspannt erziehen. Wenn ihr Kind nicht gehorcht, werden sie aber oft laut. Doch Brüllen ist nicht die Lösung.

Viele Eltern kennen das: Sie rufen «Komm zum Essen!» oder «Räum endlich dein Zimmer auf!», aber es passiert nichts. Manche Eltern denken in dieser Situation, dass ihr Kind sie provozieren will, indem es ihre Aufforderung ignoriert. Weshalb dies in den allermeisten Fällen aber nicht so ist, erklärt die Psychologin Irene Rohrer, die über langjährige Erfahrung in der Elternbildung und als Schulsozialarbeiterin verfügt: «Kinder brauchen für ihre Entwicklung eine Art Hülle, die Störungen von aussen abblocken kann. Nur so haben sie Raum für Kreativität, Fantasie und Sprachentwicklung.» Diese unsichtbare Hülle bietet ihnen Schutz und die Möglichkeit, in ihrer eigenen Welt zu versinken. Sie ist aber nicht gegen die Eltern gerichtet.

Die Eltern-Kind-Beziehung

Von Natur aus hat jedes Kind ein starkes Bedürfnis, geliebt zu werden. «Kinder wollen ihren Eltern gefallen und handeln nicht gegen sie. Nur sind sie manchmal so ins Spiel vertieft, dass sie sich nicht nach unseren Vorstellungen verhalten», weiss Irene Rohrer, die in Berikon eine psychologische Praxis führt (www.irenerohrer.ch). Beim ungestörten freien Spielen lernen Kinder am meisten über ihre Umwelt und können dabei zahlreiche Fähigkeiten entwickeln – mehr als in jedem Kurs. Viele Kinder sind schlicht überfordert, wenn die Eltern sie abrupt aus dem Spiel herausreissen wollen. Älteren Vorschulkindern hilft es, sich auf eine andere Aktivität einzustellen, wenn die Eltern einen Wecker oder eine Sanduhr stellen und erklären: «Du kannst jetzt ruhig noch spielen, aber wenn der Wecker klingelt, essen wir» oder «Wenn die Sanduhr abgelaufen ist, beginnst du mit Aufräumen».

Warum wir ausflippen

Wenn ein Kind Anweisungen trotz mehrmaliger Aufforderung ignoriert, nehmen viele Erwachsene dies persönlich und tappen in die Brüllfalle. Irene Rohrer erklärt, weshalb das häufig passiert: «Wenn Kinder uns nicht gehorchen, fühlen wir uns ohnmächtig, hilf- und ratlos. Dieses Gefühl halten wir schlecht aus und ersetzen es sehr oft durch das Gefühl Wut.» Sie empfiehlt Eltern, sich möglichst immer auf ihr ursprüngliches Gefühl zu konzentrieren. Das gelingt vielen aber nicht. Geht zum Beispiel ein Kind im Supermarkt verloren, geraten die Eltern in Panik. Wenn sie es wiedergefunden haben, brüllen sie ihr Kind an, statt ihm zu erklären, dass sie grosse Angst hatten, als es plötzlich weg war.
Die meisten Eltern, die als Kind zu Hause oft angeschrien wurden, wollen nicht laut werden, tun es aber trotzdem immer wieder. Irene Rohrer weiss, warum: «Alle unsere bisherigen Erfahrungen, so auch die Verhaltensweisen unserer Eltern, sind in unserem Unterbewusstsein abgespeichert. Wenn wir nicht an uns arbeiten, gelingt es uns kaum, diese Muster abzulegen.»

Respekt für alle

Irene Rohrer ist Verfechterin der Auffassung, dass Kinder den gleichen Wert haben wie Erwachsene, auch wenn sie über deutlich weniger Erfahrung verfügen. Sie sagt: «Kinder haben es verdient, dass wir respektvoll mit ihnen umgehen.» Leider verlieren viele Eltern den Respekt vor ihrem Kind sehr schnell. Problematisch am Brüllen sei nicht in erster Linie die Lautstärke, sondern der verletzende Inhalt der Botschaften. Häufig werten Eltern ihr Kind ab, wenn sie in Rage geraten. Sie kritisieren sein Wesen und nicht seine Handlungen. Dabei ist ihnen nicht bewusst, dass manche Kinder psychische Gewalt als schlimmer empfinden als physische.

Mit Brüllen zum Ziel?

Die Meinung, dass es ohne Brüllen nicht geht, ist weit verbreitet. Viele Eltern machen die Erfahrung, dass ihr Kind gehorcht, wenn sie laut werden. «Das Kind lernt dabei aber nur, dass aggressives Verhalten zum Ziel führt», erläutert die Fachfrau, «das wollen wir unseren Kindern aber nicht mit auf den Weg geben.» Manche Kinder parieren aus lauter Angst vor den Eltern.

Authentische Eltern

Sollen Eltern also niemals laut werden? «Nein, das wäre nicht authentisch. Jeder Mensch soll seine Gefühle – auch Wut – zeigen dürfen. Wichtig ist aber, dass Eltern ihren Kindern dabei nicht schaden und sie nicht abwerten», erklärt Irene Rohrer. Drohe Gefahr, sei es oft sogar ein Muss, dass Eltern laut werden. Wenn ein Kind zum Beispiel auf die Strasse rennt, während sich ein Auto nähert, sollen sie ihr Kind laut warnen. «Ist die Gefahr vorüber, braucht es aber kein ‹Gopfriedstutz!› und auch kein ‹Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht auf die Strasse rennen sollst! Warum gehorchst du mir nie?›», ergänzt die Psychologin. Rutscht den Eltern doch mal etwas raus, was sie im Nachhinein bereuen, empfiehlt die Fachfrau, dass sie sich bei ihrem Kind entschuldigen. Sie ergänzt: «Wenn die Entschuldigung nicht nur eine Floskel, sondern ernst gemeint ist, lernt das Kind viel dabei.» Kinder wollen keine perfekten Eltern.

Alternativen zum Brüllen

Wenn Kinder ab etwa vier bis fünf Jahren nicht gehorchen, empfiehlt Irene Rohrer den Eltern, dies mit dem Kind zu besprechen. Ab diesem Alter sind die Kleinen fähig, sich in ihr Gegenüber zu versetzen. Am besten bringen die Eltern ihre Ohnmacht in Ich-Botschaften zum Ausdruck, zum Beispiel: «Ich weiss einfach nicht mehr weiter, was kann ich noch tun? Ich wäre wirklich sehr froh, wenn du mir beim Tischdecken hilfst.» Wenn Eltern ihre Ohnmacht nicht durch Wut ersetzen, sondern mit dem Kind aufrichtig über ihre Gefühle sprechen, ohne ihm Vorwürfe zu machen, erhöht dies die Kooperationsbereitschaft des Kindes. So können sie gemeinsam mit ihm nach Lösungen suchen.
Wenn Eltern ihrem Kind eine Anweisung geben wollen, sollten sie grundsätzlich zu ihm hingehen und nicht von der Küche oder einem anderen Stockwerk aus brüllen (siehe Textkasten). Ein Kind fühlt sich eher angesprochen, wenn seine Eltern es anschauen oder am Arm berühren. Wichtig ist auch, dass die Körperhaltung mit den Worten übereinstimmt. Dann glauben Kinder ihren Eltern eher.

Mit etwas Humor

In der Erziehung klappt vieles besser, wenn die Eltern gelassen bleiben. So kann der Einsatz von Codewörtern sinnvoll sein, um dem Kind unerwünschtes Verhalten wie zum Beispiel Schmatzen abzugewöhnen. Das Kind wählt dafür beispielsweise das Codewort «Fuchs». Statt das Kind nun immer wieder mit den Worten «Hör bitte auf zu schmatzen» zu ermahnen, sagen die Eltern einfach: «Jetzt ist gerade ein Fuchs vorbeigehuscht» oder «Jetzt haben wir ein ganzes Rudel Füchse im Garten». Die Situation entspannt sich sofort, und das Kind fühlt sich in seinem Wesen nicht erniedrigt.

Konsequent, ohne zu brüllen

Es ist ganz normal, dass Kinder ihren Spielraum ausloten und zum Beispiel am Abend vor dem Gute-Nacht-Ritual trödeln. Irene Rohrer empfiehlt hier Konsequenz und vor allem Gelassenheit. Sie sagt: «Wenn das Kind weiss, dass die Gute-Nacht-Geschichte kürzer ausfällt oder ganz weggelassen wird, wenn es trödelt, dürfen die Eltern nicht wütend werden und sich auch nicht auf Diskussionen mit ihm einlassen, wenn es nicht vorwärtsmacht.» Besser sei es, in dieser Situation ruhig, aber konsequent zu bleiben und dem Kind zu verstehen zu geben, dass es selber gewählt hat, zu trödeln, und sich nun mit einer kürzeren Geschichte zufrieden geben muss. Gelingt dies den Eltern, wird das Kind am folgenden Tag wahrscheinlich die Option «schnell bereitmachen und dafür eine längere Geschichte hören» wählen, sofern es Lust auf eine Geschichte hat. Wenn ein Kind jedoch die Option «kürzere oder keine Geschichte» wählt, werden Eltern oft wütend. Zu Unrecht, denn sie müssen wissen, dass Trödeln keine Entscheidung gegen sie ist.

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Tipps
So kooperieren Kinder besser

Wenn Sie von Ihrem Kind etwas wollen,

  • unterbrechen Sie Ihre Tätigkeit,
  • gehen Sie zu Ihrem Kind hin,
  • berühren Sie es an der Schulter,
  • gehen Sie auf Augenhöhe,
  • nehmen Sie Blickkontakt auf, ohne Ihr Kind anzustarren,
  • erklären Sie ihm in kurzen Sätzen, was Sie von ihm erwarten.
  • fruchtet dieses Vorgehen nicht, sollten Sie die Aufforderung nicht zehnmal wiederholen, sondern beim Kind bleiben und nichts mehr sagen.