Vorlesen macht schlau

Kinder, die mit Büchern aufwachsen, entdecken schon früh, wie viel Spass darin steckt. Sie werden ein Leben lang Freude am Lesen und am Lernen haben.

Sobald ein Baby greifen kann, findet es ein Büchlein auf dem Wickeltisch oder im Kinderwagen spannend. Es betastet das Buch, nimmt es in den Mund und beisst auch mal rein. «Manche Kinder geniessen es schon im Alter von wenigen Wochen, wenn die Eltern mit ihnen ein Bilderbuch anschauen», sagt Barbara Jakob Mensch, Mitarbeiterin Leseförderung am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM in Zürich. In den ersten Lebensmonaten steht beim gemeinsamen Anschauen eines Büchleins noch nicht der Inhalt im Zentrum, sondern es geht in dieser Zeit in erster Linie um die emotionale Nähe zwischen dem Baby und seinen Bezugspersonen. Die Eltern zeigen ihrem Kind so, dass sie sich Zeit für es nehmen. Die Fachfrau empfiehlt Eltern, mit ihrem Kind ab dem sechsten Lebensmonat regelmässig Bilderbücher anzuschauen.

Was die Wissenschaft sagt

Das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern unterstützt das Kind beim Spracherwerb. Vorlesen vermittelt Geborgenheit und fördert die Gesprächskultur innerhalb der Familie. Studien zeigen, dass Kinder, die in einem kommunikativen Umfeld aufwachsen, in der Schule besser mitkommen. Ausserdem fördert Vorlesen die Konzentration und das Gedächtnis. Das Kind lernt, abstrakt zu denken, Zusammenhänge zu finden und sich in die Figuren der Geschichte einzufühlen. Ausserdem entdeckt es Welten, die in seiner Realität nicht existieren.

Wissenswertes rund ums Vorlesen

Beim Vorlesen geht es darum, die Welt zwischen zwei Buchdeckeln gemeinsam zu entdecken. Der Dialog mit dem Kind steht im Zentrum. «Ein Bilderbuch einfach nur möglichst schnell durchzublättern, ist nicht sinnvoll», erklärt Barbara Jakob Mensch. Das Kind muss die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen, Kommentare abzugeben und sich Gedanken zu machen. «Für die Entwicklung des Kindes wäre es demzufolge nicht klug, wenn die Eltern es zum Stillsitzen zwingen oder ihm gar das Wort abschneiden», erläutert Barbara Jakob Mensch. Denn die Sprache entwickelt sich interaktiv. Dies ist übrigens auch der Grund dafür, dass Fernsehen nichts zur Sprachentwicklung beiträgt. Vorlesen ist keine Einbahnstrasse. «Manchmal kann es aber durchaus sinnvoll sein, mit dem Kind auszuhandeln, dass man jetzt die Seite noch fertig liest und seine Fragen anschliessend mit ihm bespricht. Wichtig ist, dass das Kind die Gewissheit hat, dass es zum Zug kommen wird und sich die Eltern Zeit für das Gespräch nehmen.»
Barbara Jakob Mensch rät Eltern, ihrem Kind offene Fragen (z.B. Fragen nach dem weiteren Verlauf der Geschichte) zu stellen. «Fragen, die das Kind nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann, regen seine Fantasie an. Die Frage ‹Warum ist die Prinzessin jetzt so glücklich?› oder bei kleineren Kindern ‹Wo hat sich denn der kleine Hund versteckt?› regt zum Denken an.» Wenn Eltern hingegen nur Fragen stellen, um zu überprüfen, ob das Kind wirklich zugehört hat, macht das keinen Spass.

Die Gutenachtgeschichte

Rituale am Abend vermitteln dem Kind Sicherheit und Geborgenheit. Es kann sich danach leichter dem Schlaf hingeben. In den ersten Lebensmonaten wirkt ein Gutenachtlied oder ein kleiner Vers beruhigend. Ab dem zweiten Lebenshalbjahr können die Eltern mit dem Vorlesen einfachster Geschichten beginnen. Mit der Zeit sollen Kinder die Gutenachtgeschichte selber auswählen dürfen. Manchmal sei es für die Eltern nicht so leicht, zu akzeptieren, dass ihr Kind immer wieder die gleiche Geschichte hören möchte, weiss Barbara Jakob Mensch. «Das ist in aber Ordnung, denn es bedeutet, dass das Kind immer noch am Verarbeiten der Erzählung ist und deshalb die Repetition braucht.» Immer wieder die gleiche Geschichte zu hören gibt dem Kind Sicherheit und die Bestätigung, dass es weiss, wie die Geschichte weitergeht.

Tipps zum Vorlesen

  • Bieten Sie Ihrem Kind möglichst früh altersgerechte Bücher an.
  • Schauen Sie mit ihm ab dem sechsten Lebensmonat regelmässig Bilderbücher an.
  • Ihr Kind soll die Geschichte auswählen, die es hören möchte, auch wenn es immer wieder die gleiche ist.
  • Lesen Sie langsam und deutlich vor. Spielen Sie mit Ihrer Stimme.
  • Gehen Sie auf Fragen Ihres Kindes ein und nehmen Sie sich Zeit für das Gespräch.
  • Stellen Sie ihm offene Fragen.
  • Es spielt keine Rolle, ob Sie auf Schweizer- oder auf Hochdeutsch vorlesen. Wählen Sie die Sprache, die Ihnen besser liegt und dem Kind gefällt. Die Angst, dass das Kleinkind Hochdeutsch nicht versteht, ist in der Regel unbegründet.
  • Besuchen Sie mit Ihrem Kind schon früh eine Bibliothek und lassen Sie eine Ausleihkarte auf seinen Namen ausstellen. Wenn es «seine» Bücher selber auswählen darf, wird es mächtig stolz sein.