Armutsfalle Mutterschaft

Frauen haben in Sachen Gleichberechtigung viel erreicht. Doch sie sind auch heute noch häufiger von Armut betroffen als Männer. Bettina Fredrich erklärt, weshalb.

Mutterschaft und Armut

Dr. Bettina Fredrich, Geschäftsleiterin der Eidg. Kommission für Frauenfragen, Bern

Heute sind Mütter vermehrt erwerbstätig und Väter engagieren sich stärker bei der Kinderbetreuung. Warum reduzieren aber im Vergleich zu Vätern immer noch deutlich mehr Mütter ihr Erwerbspensum?

Der Entscheid, wer nach der Geburt eines Kindes in welchem Rahmen erwerbstätig bleibt, hängt immer noch wesentlich vom Lohn und somit vom Geschlecht ab. Der im Durchschnitt geringere Lohn von Frauen, die hohen Kitakosten und die steuerliche Benachteiligung von Ehepaaren zwingen viele Paare, die Entscheidung zuungunsten der Frau zu treffen. Viele Mütter reduzieren ihr Erwerbspensum und übernehmen einen Grossteil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit, während Väter in der gleichen Lebensphase ihr Erwerbspensum aufstocken. In der Schweiz sind die Rahmenbedingungen nicht auf doppelt verdienende Elternpaare ausgerichtet. Nicht zuletzt hat auch das traditionelle Rollenbild einen ungünstigen Einfluss auf die Situation der Frauen: Mütter, die arbeiten, gelten in manchen Kreisen immer noch als Rabenmütter.

Weshalb geben manche Mütter ihre Erwerbstätigkeit nach der Familiengründung auf?

Neben den genannten Gründen ist es die Tatsache, dass in der Schweiz Kinder nach wie vor als Privatangelegenheit angesehen werden. Nur 2,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts werden in Familien investiert. In unseren Nachbarländern sind es über 3 Prozent. In der Schweiz gibt es beispielsweise keine Elternzeit. Familien müssen sich selbst organisieren. Für viele sind Kitas zu teuer, oder die Öffnungszeiten entsprechen nicht ihren Bedürfnissen. Ausserdem ist das Angebot an Betreuungsplätzen vor allem auf dem Land lückenhaft. Die Rahmenbedingungen, die es beiden Elternteilen ermöglichen würden, erwerbstätig zu bleiben, sind nicht gegeben.

Wie gross sind denn die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen?

Heute verdienen Männer im Durchschnitt etwa 18 Prozent mehr als Frauen, monatlich also 600 bis 680 Franken. Im privaten Sektor sind die Unterschiede grösser als im öffentlichen. Differenzen beim Lohn bestehen übrigens schon bei der ersten Stelle: Junge Frauen verdienen direkt nach der Ausbildung etwa 6 Prozent weniger als ihre männlichen Altersgenossen. Im Lauf des Erwerbslebens werden die Unterschiede immer grösser.

Warum ist der Lohnunterschied in Zeiten der Gleichberechtigung immer noch so gross?

Ein Teil des Unterschieds lässt sich mit persönlichen Faktoren wie Alter, Ausbildung und Dienstjahre erklären. Für knapp die Hälfte des Lohnunterschieds gibt es jedoch keine Erklärung. Frauen werden also trotz Gleichstellungsgesetz, das gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit fordert, weiterhin diskriminiert. Die Ungleichheit hängt auch von der Bewertung durch die Gesellschaft ab. So arbeiten Frauen oft in Berufen mit niedrigem Lohnniveau, zum Beispiel in der Pflege, der Kinderbetreuung oder im Detailhandel, während Männer in bestimmten Branchen mit hohen Löhnen, wie zum Beispiel in der Informatik, übervertreten sind.
Frauen sind in Führungspositionen auch heute noch untervertreten, sie verhandeln weniger um ihren Lohn und wollen in erster Linie etwas Sinnvolles tun. Bei der Berufswahl überlegen sie seltener, ob sie durch ihre Erwerbsarbeit eine Familie ernähren können.

Inwiefern sind Frauen auf dem Arbeitsmarkt sonst noch schlechter gestellt als Männer?

Frauen bekommen fast doppelt so häufig wie Männer nur befristete Arbeitsverträge. Sie gehen öfter als Männer mehreren Jobs gleichzeitig nach. Zudem sind sie häufiger von Unterbeschäftigung betroffen als Männer, sprich, sie würden gern mehr arbeiten, finden aber keine Stelle mit einem höheren Pensum. 2020 waren 3,9 Prozent der Männer unterbeschäftigt. Bei den Frauen waren es 11,7 Prozent. Arbeitslose Frauen haben mehr Mühe, wieder einen Job zu finden, und werden häufiger ausgesteuert als Männer. Die Pandemie hat gezeigt, dass Teilzeitarbeitende und Tieflohnverdienerinnen schneller aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und in eine prekäre Situation geraten.

Rund 63 Prozent der Mütter mit Kindern unter zwölf Jahren arbeiten Teilzeit. Welche Risiken birgt Teilzeitarbeit?

Teilzeitangestellte werden weniger gefördert und haben weniger Weiterbildungsmöglichkeiten. Ihre Löhne und Entwicklungsmöglichkeiten stagnieren oft. In der Schweiz ist die soziale Sicherheit an die Erwerbsarbeit gekoppelt. Frauen sind deutlich weniger gut abgesichert als Männer. Nur gerade knapp 50 Prozent der Frauen zahlen in eine Pensionskasse ein. Bei den Männern sind es 70 Prozent. Die durchschnittliche Rente aus der zweiten Säule, die Frauen später beziehen, ist etwa halb so hoch wie bei Männern. Deshalb sind sie im Alter häufiger auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Die Altersarmut bei Frauen ist also ein Abbild der Erwerbstätigkeit.

Heute lässt sich fast jedes zweite Ehepaar in der Schweiz scheiden. Wie wirkt sich eine Scheidung auf die finanzielle Situation der Frau aus?

2021 entschied das Bundesgericht, dass nach einer Scheidung grundsätzlich jede und jeder für sich selbst sorgen soll. Umfangreiche Unterhaltszahlungen sollen nur in Ausnahmefällen, etwa bei der Betreuung von Kleinkindern, geleistet werden müssen. Dass jede und jeder für sich sorgen kann, ist zwar grundsätzlich richtig, in der Schweiz stimmen die Rahmenbedingungen dafür jedoch nicht, solange Frauen schlechtere Chancen und Verdienstmöglichkeiten haben und die Betreuungsarbeit nicht besser aufgeteilt wird. Heute übernehmen Frauen zwei Drittel der unbezahlten Care-Arbeit.

Der Entscheid des Bundesgerichts hat die Situation von Müttern also verschlechtert?

Ja, genau. Früher mussten sich Hausfrauen über 45 Jahre nach einer Scheidung nicht mehr nach einer Stelle umsehen. Der Expartner musste für ihren Unterhalt aufkommen. Der Bundesgerichtsentscheid bedeutet also, dass heute auch Frauen über 45 ohne Berufserfahrung oder mit langem Berufsunterbruch, die ihrem Partner eine Karriere ermöglicht haben, eine Erwerbstätigkeit suchen müssen. Bei der Einschulung der Kinder wird von geschiedenen Müttern verlangt, dass sie mindestens 50 Prozent arbeiten. Beim Übertritt in die Oberstufe sind es 80 Prozent. Wenn die Kinder 16 Jahre alt sind, wird Müttern ein 100-Prozent-Pensum zugemutet. Das ist aber oft schwierig.
Häufig reicht das Geld nach einer Trennung oder Scheidung nicht, um zwei Haushalte zu finanzieren. Frauen laufen Gefahr, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten zu können, und sind im Alter ungenügend abgesichert. Der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nach einer längeren Pause gelingt nur wenigen Frauen. Viele werden in die Sozialhilfe gedrängt, verschulden sich und bleiben häufig sehr lange arm. Laut einer Untersuchung kann nicht einmal die Hälfte der Frauen in der Deutschschweiz ihre Existenz allein sichern. Jede zweite Frau ist finanziell auf ihren Partner oder ihre Partnerin angewiesen. Jede fünfte Frau gibt an, dass sie sich eine Trennung oder Scheidung von ihrem Partner oder ihrer Partnerin nicht leisten kann.

Was raten Sie Frauen, die sich trotz Kindern finanziell langfristig absichern wollen?

Ich rate jungen Frauen, sich bei der Berufswahl immer auch die Frage zu stellen, ob sie ihre Existenz mit dem zu erwartenden Einkommen sichern und sich weiterentwickeln können. Wichtig ist, dass sie vor der Familiengründung finanziell unabhängig sind. Wenn Kinder da sind, sollen Frauen möglichst erwerbstätig bleiben. In der ersten Zeit ist es sinnvoll, wenn beide Eltern ihr Pensum reduzieren. Wichtig ist aber auch, dass Frauen ihr Pensum bald wieder aufstocken können und vom Partner einfordern, dass er einen Teil der Betreuungs- und Hausarbeit übernimmt. Frauen sollten sich schon früh beraten lassen, wie sie sich fürs Alter absichern können.

Was können Frauen sonst noch tun?

Sie können Parteien wählen, die sich für die Gleichstellung von Mann und Frau, die Stärkung der Familie und die egalitäre Verteilung der unbezahlten Care-Arbeit einsetzen.

Viele Frauen überlassen finanzielle Angelegenheiten wie das Ausfüllen der Steuererklärung oder die Planung von Investitionen und der Vorsorge ihrem Partner. Warum sollten sie sich mehr für die finanzielle Situation der Familie interessieren?

Das Leben folgt nicht immer einem Schönwetterprogramm. Frauen sollten sich finanziell so absichern, dass aus Stolpersteinen nicht Krisen werden. Es lohnt sich, die Mechanismen zu verstehen, um Armut im Alter vorzubeugen.

Gute Frage?
Wir wollen uns scheiden lassen, verdienen aber zu wenig für zwei Haushalte. Was bedeutet dies für mich als Mutter?

Der unterstützungspflichtige Elternteil (in der Schweiz mehrheitlich der Vater) darf den zur Sicherung des Existenzminimums notwendigen Lohnanteil behalten, während der Elternteil, der die Kinder betreut (in der Schweiz mehrheitlich die Mutter), Sozialhilfe beantragen muss, wenn das Geld nicht reicht. Das Manko wird also jener Person aufgebürdet, die sich um die Kinder kümmert.

Tipps zur Vorbeugung von Armut

  • Wählen Sie einen Beruf mit Entwicklungsmöglichkeiten.
  • Achten Sie auf finanzielle Unabhängigkeit vom Partner.
  • Bleiben Sie auch nach der Geburt von Kindern erwerbstätig.
  • Teilen Sie die unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit mit Ihrem Partner.
  • Interessieren Sie sich für die finanziellen Angelegenheiten Ihrer Familie.
  • Lassen Sie sich beraten, um sich finanziell langfristig abzusichern.

Haben Sie gewusst,

dass das Pensionskassen-Guthaben nach einer Scheidung hälftig zwischen den Expartnern aufgeteilt wird? Als Berechnungsgrundlage dient die Dauer der Ehe, also der Zeitraum vom Tag der Eheschliessung bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens beim zuständigen Gericht.