Rund 15–20 Prozent der Kinder sind hochsensibel.
Hochsensible Kinder nehmen innere und äussere Reize stärker wahr als normal sensible Kinder und verarbeiten sie auch gründlicher und komplexer, was schnell zu Übererregtheit führen kann. Davon sind auch die Sinne betroffen: Für die zweijährige Anna ist der Rasenmäher draussen im Garten so laut, dass sie jedes Mal zu weinen beginnt, wenn sie ihn hört. Louis empfindet den Geruch im Auto seiner Eltern so stark, dass ihm davon fast übel wird. Laura trägt Pullis und T-Shirts nur dann, wenn ihre Mutter zuvor die Etiketten entfernt hat. «Hochsensible Kinder nehmen alles intensiv wahr, nicht nur das Negative, sondern auch das Positive», erklärt Brigitte Küster, Gründerin des Instituts für Hochsensibilität. So bleibt ihnen zum Beispiel ein tolles Naturerlebnis länger im Gedächtnis, aber auch etwas, was sie als ungerecht empfinden.
Hochsensible Babys
Hochsensibilität manifestiert sich schon in den ersten Lebensjahren. Für betroffene Kinder ist es besonders schwierig, wenn sie Reizen ausgesetzt werden, ohne die Möglichkeit zu haben, darauf zu reagieren. Als Beispiel nennt die Expertin für Hochsensibilität und Buchautorin das Tragen des Babys mit Blick in Laufrichtung. «Hochsensible Babys mögen das überhaupt nicht. Die vielen Reize führen bei ihnen schnell zu Überstimulation», weiss Brigitte Küster. Sie haben auch Mühe damit, wenn sie an einem Familienfest herumgereicht werden. Oft sind sie sehr schüchtern und können nur schwer einschlafen.
Kein organisches Problem
Heute weiss man, dass sich die Sinnesorgane von hochsensiblen Kindern nicht von jenen von normal sensiblen unterscheiden. Betroffene Kinder verarbeiten Sinneseindrücke einfach anders und reagieren stärker darauf. So können bei ihnen zum Beispiel bestimmte Tonfrequenzen Kopfschmerzen auslösen oder kann eine Naht in den Socken zur Qual werden. Introvertierte hochsensible Kinder beobachten eher, machen sich Gedanken über alles Mögliche und ziehen Rückschlüsse daraus. Sie spüren Stimmungen sehr gut. Hochsensible Kinder können aber auch extrovertiert sein.
Nach einem Tag in der Kita oder im Kindergarten sind hochsensible Kinder vielfach erschöpft und lassen sich kaum für weitere Aktivitäten begeistern. Brigitte Küster, die selber von Hochsensibilität betroffen ist, empfiehlt Eltern von hochsensiblen Kindern im Vorschulalter, nicht zu viele zusätzliche Aktivitäten einzuplanen. Sie sagt: «Wenn das Kind grösser ist und es darum geht, ein Hobby zu finden, brauchen die Eltern Geduld, weil es oft Mühe hat, sich für eines zu entscheiden. Es hat zwar viele Interessen, macht sich aber auch viele Gedanken dazu.»
Keine Samthandschuhe
Wir leben in einer Welt der Reizüberflutung. Müssen hochsensible Kinder permanent vor Überstimulation geschützt werden? Brigitte Küster verneint: «Das käme einer Überforderung der Eltern gleich.» Wichtig sei hingegen, dass die Eltern für Rückzugsmöglichkeiten sorgen, so dass sich ihr Kind erholen kann und stark genug wird, um mit den vielen Reizen umzugehen. «Ab und zu Reizüberflutung ist nicht schlimm – das kann stärkend wirken, weil das Kind so realisieren kann, dass es da wieder herauskommt», ergänzt die Fachfrau. Eine ständige Überstimulation würde sich hingegen negativ auf den Körper auswirken.
Ein fester Rhythmus
Ein fixer Tagesablauf mit genügend Pausen ist für hochsensible Kinder zentral. Besonders heikel sind für sie die Zeiten vor Weihnachten und vor den Sommerferien. «Wenn die Eltern das wissen, können sie sich darauf einstellen und den Rhythmus der Familie danach ausrichten», sagt Brigitte Küster. Manche Familien profitieren davon, wenn sie ihren Rhythmus etwas umstellen und zum Beispiel Pufferzeiten einrichten: So ist es für einige hochsensible Kinder hilfreich, wenn sie am Mittag nach dem Kindergarten zu Hause erst ein paar Minuten im Zimmer «herunterfahren» dürfen, bevor sie zum Essen gerufen werden.
Sozialverhalten
Manche hochsensible Kinder haben nicht das Bedürfnis, ständig mit anderen zu spielen, was einige Eltern nicht verstehen können, weil sie glauben, dass ihr Kind viele soziale Kontakte braucht, um sich gut zu entwickeln. Brigitte Küster weiss: «Hochsensible profitieren schon von wenigen – ein oder zwei – sehr guten Freunden. Damit ist ihr Kontaktbedürfnis gestillt.» Eltern sollten ihr Kind nicht allzu sehr dazu drängen, sich mit anderen Kindern zu treffen, weil sie es dadurch überfordern können. Zudem bekommt es dann aufgrund seiner starken Wahrnehmung das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Zieht sich das Kind aber immer zurück und hat keine Freunde, sollten die Eltern ab und zu ein Kind nach Hause einladen. Denn für ein glückliches Leben ist es auch für hochsensible Kinder wichtig, dass sie bei jemandem ankern können.
Damit es in Kontakt mit anderen Kindern kommt, können Eltern ihrem Kind Angebote (z.B. Muki-Turnen) machen, aber sie dürfen nicht enttäuscht sein, wenn es diese ausschlägt. Sie sollten gut beobachten, wie ihr Kind in einer Gruppe auf Reize reagiert, und die Freizeit nach dem Prinzip «Weniger ist mehr» planen. Dafür müssen sie sich in Gelassenheit üben. Brigitte Küster dazu: «Ein Leben ist nicht misslungen, wenn ein Kind im Vorschulalter partout nicht an einem Schwimmkurs teilnehmen will.»
Beziehung und Orientierung
Hochsensible Kinder sind sehr stark auf Beziehung ausgerichtet: Wenn die Beziehung zur Bezugsperson stimmt, können sie über sich hinauswachsen. Ist es nicht der Fall, geht oft gar nichts. Zudem brauchen hochsensible Kinder ein hohes Mass an Orientierung. Wenn es etwas Neues zu erleben gibt, spricht man am besten im Vorfeld mit seinem Kind darüber und probiert es schon mal aus. Hochsensible Kinder benötigen zum Beispiel in den Ferien ein, zwei Tage Zeit, um «anzukommen».
Das hilft hochsensiblen Kindern
Hochsensibilität bedeutet nicht, dass ein Kind im späteren Leben Probleme haben wird. Wichtig ist, dass es mit Unterstützung seiner Eltern lernen kann, was ihm hilft, eine Situation durchzustehen, sich also an seinen Ressourcen zu orientieren. Manche hochsensible Kinder brauchen mehr Zeit, weil sie Informationen so gründlich verarbeiten, und mehr Vorbereitung auf eine Veränderung, zum Beispiel den Eintritt in den Kindergarten.
Überstimulation wirkt sich oft auf den Körper aus. Dann sind körperliche Massnahmen hilfreich. Viele hochsensible Kinder, die zum Beispiel mit Bauchschmerzen auf Reizüberflutung reagieren, können sich durch Auflegen eines Kirschkernsäckchens entspannen. Anderen hilft ein Stressball oder eine Rückenmassage. Hochsensible Kinder profitieren ganz besonders vom Aufenthalt in der Natur.
Oft sind die Eltern von hochsensiblen Kindern selber hochsensibel und tendieren dazu, ihre eigene Geschichte auf die Kinder zu übertragen; sie stehen deswegen ständig unter grosser Anspannung. Brigitte Küster sagt dazu: «Eltern tun gut daran, sich in Gelassenheit zu üben, sich zu distanzieren und mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen.»
So nicht
Hochsensible Kinder werden manchmal als Mimosen belächelt. Manche Eltern verlieren die Geduld mit einem solchen Kind und machen Aussagen wie: «Jetzt stell dich doch nicht so an!» Doch das Kind stellt sich ja gar nicht an, sondern empfindet tatsächlich so. Solche Sätze sind kontraproduktiv, weil sie Tatsachen verleugnen und das Kind dadurch das Gefühl bekommt, dass es nicht so sein darf, wie es ist. Als Konsequenz wird es nicht mehr zeigen, was es plagt, und als Erwachsener keinen Zugang zu seinen Gefühlen haben und seine Bedürfnisse nicht mehr spüren.
Hochsensibilität ist keine Krankheit
Hochsensibilität ist ein Temperamentsmerkmal und keine psychische oder körperliche Störung. Brigitte Küster empfiehlt Eltern, der Hochsensibilität nicht zu viel Bedeutung zuzumessen: «Tut man es doch, kann man damit auch etwas verstärken.» Manche Eltern glauben, dass sich die ganze Welt danach richten muss, was den Graben zwischen Normal- und Hochsensiblen nur vergrössert. Die Expertin rät Eltern, immer ihre eigenen Motive zu überprüfen, bevor sie mit der Betreuerin in der Kita oder der Kindergärtnerin darüber sprechen: «Das Kind kann Gefahr laufen, abgestempelt zu werden, und bekommt das Gefühl, nicht normal zu sein.» Ist die Betreuungsperson jedoch offen für das Thema, kann ein Gespräch eine Entlastung für alle Beteiligten sein.
Definition Hochsensibilität
Für Elaine Aaron, Pionierin in Sachen Hochsensibilitätsforschung, müssen vier Kriterien erfüllt sein, damit ein Kind als hochsensibel gilt:
- gründliche und komplexe Informationsverarbeitung
- Übererregbarkeit
- stärkere sensorische Empfindung
- emotionale Intensität
Ist Hochsensibilität angeboren?
Es gibt eine Veranlagung, die sich im Baby- und Kleinkindalter zeigt. Hochsensibilität ist in diesem Fall ein Temperamentsmerkmal. Wenn sie sich erst später im Leben zeigt, liegt meist eine Traumatisierung vor.
Hochsensibilität und ADHS
Hochsensibilität hat mit der Stoffwechselstörung ADHS nur etwas gemeinsam: Betroffene haben Mühe mit der Konzentration. Hochsensible können sich allerdings häufig gut konzentrieren und lange an etwas dranbleiben, ausser wenn sie überstimuliert sind. Kinder mit der Stoffwechselstörung ADHS haben grundsätzlich Probleme mit der Konzentration.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.