Zu früh geboren

In der Schweiz kommen immer mehr Babys vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt.

Die Zunahme der Frühgeborenenrate lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen, unter anderem auf das Alter der werdenden Mutter. In den letzten Jahrzehnten ist das Durchschnittsalter der Erstgebärenden beträchtlich gestiegen, mittlerweile liegt es bei über 30 Jahren. Mit dem Alter steigt das Risiko von Schwangerschaftskomplikationen, die eine Frühgeburt auslösen oder notwendig machen können.

Mehr Mehrlinge

Im Vergleich zu jüngeren Frauen ist bei älteren Frauen auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie mit Mehrlingen schwanger werden. Zu einer höheren Zahl an Zwillings- oder Drillingsschwangerschaften kommt es aber auch durch die Zunahme von Unfruchtbarkeitsbehandlungen. Generell sind Komplikationen bei Mehrlingsschwangerschaften häufiger, als wenn Frauen nur ein Kind erwarten. Nicht selten kann die Plazenta die Föten gegen Ende der Schwangerschaft wegen der engen Platzverhältnisse nicht mehr ausreichend versorgen. Deshalb werden Mehrlinge häufiger zu früh geboren als Einlinge. «Je älter eine Schwangere ist, desto höher ist ihr Risiko für Gesundheitsprobleme wie zum Beispiel Schwangerschaftsdiabetes. Aber auch Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, hoher Blutdruck, hohe Cholesterinwerte und Diabetes treten häufiger auf», erklärt Andreas Malzacher, Leitender Arzt der Neonatologie am Kantonsspital St. Gallen. Gleichzeitig profitieren ältere Schwangere von zahlreichen Schwangerschafts-Vorsorgeuntersuchungen. Dadurch steige auch die Wahrscheinlichkeit, Probleme zu entdecken, nach denen man gar nicht gesucht habe, ergänzt Malzacher.

Medizinische Probleme

Nicht immer lässt sich ein eindeutiger Auslöser für eine Frühgeburt finden. Bekannt ist zum Beispiel, dass bakterielle Infektionen der Scheide, des Gebärmutterhalses oder der Harnwege aufsteigen, vorzeitige Wehen auslösen und die Fruchtblase zum Platzen bringen können. Durch eine Muttermundschwäche kann das Kind vor dem Termin in den Geburtskanal rutschen.
Manchmal ist der Grund für eine Frühgeburt aber auch, dass die Plazenta vor dem Ausgang der Gebärmutter liegt (Plazenta praevia) und das Kind früher geholt werden muss. Denn würde sich die Plazenta ablösen, bevor das Kind geboren ist, bekäme es keinen Sauerstoff und wäre nicht überlebensfähig. Kann die Plazenta das Kind nicht ausreichend versorgen oder drohen Entwicklungsstörungen, gilt es abzuwägen, ob das Kind nicht ausserhalb des Mutterleibes besser versorgt werden kann.
Für die vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft spricht auch, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist, wenn sie zum Beispiel an hohem Blutdruck, Praeklampsie (Schwangerschaftsvergiftung) oder am seltenen HELLP-Syndrom leidet. Nicht zuletzt gibt es Hinweise darauf, dass Rauchen und Zahnfleischentzündungen eine Frühgeburt begünstigen.

Ziel der Medizin

Laut Andreas Malzacher ist das wichtigste Ziel bei der Betreuung einer Schwangeren mit vorzeitigen Wehen, eine Frühgeburt zu verhindern oder möglichst weit hinauszuzögern. Bei vorzeitigen Wehen wird die Ärztin oder der Arzt Ruhe, manchmal sogar die Einlieferung ins Spital anordnen, wo mit wehenhemmenden Medikamenten versucht wird, die Geburt möglichst lange zu verhindern. Allerdings gelingt dies meist nur für ein paar Tage. Diese Zeit wird genutzt, um der Mutter Medikamente zu verabreichen, die eine Lungenreifung beim Fötus bewirken. Vor der 30. Schwangerschaftswoche zählt jeder Tag für die Entwicklung des Kindes. Je reifer ein Frühgeborenes ist, desto besser sind seine Überlebenschancen.

Die Hürden

Für Frühgeborene ist der Start ins Leben deshalb so schwer, weil sowohl ihre Organe als auch ihr Immunsystem noch nicht ausgereift sind. Laut Andreas Malzacher sind Infektionen ein grosses Thema: «Diese können selbst Wochen nach der Geburt die Situation dramatisch verändern.» Grundsätzlich stehen der modernen Neonatologie heute Mittel zur Verfügung, die zum Beispiel den Prozess der Lungenreifung beschleunigen können. Damit hat sich die Grenze des Machbaren verschoben. Dennoch dürfe man nicht vergessen, so Malzacher, dass man extrem früh Geborene nicht am Leben halten könne, wenn sie nicht leben wollten: «Wir können diese Kinder lediglich unterstützen.»

Was das Kind braucht

In den ersten Stunden und Tagen nach einer Frühgeburt muss das Kind in erster Linie intensivmedizinisch versorgt werden. Danach braucht es aber vor allem liebevolle Betreuung durch die Pflegenden und seine Eltern. «Für Frühgeborene ist das Bonding mit seinen Eltern extrem wichtig. Ideal ist natürlich, wenn die Eltern möglichst viel Zeit mit dem Kind verbringen und ihm viel Körperwärme und Zuneigung beim Känguruhen schenken können», erklärt Andreas Malzacher. Beim Känguruhen, das auch den Eltern guttut, wird das Frühgeborene der Mutter oder dem Vater nackt auf den nackten Oberkörper gelegt und gut zugedeckt. Aus Erfahrung weiss Andreas Malzacher, dass der Vater bei einer Frühgeburt meist besonders gefragt ist, weil die frischgebackene Mutter nach der Geburt in der Regel nicht im gleichen Raum untergebracht werden kann wie das Neugeborene.

Herausforderung für die Eltern

Eine Frühgeburt stellt das Leben der Eltern total auf den Kopf. Alle Vorstellungen, Wünsche und Pläne bezüglich der Geburt sind plötzlich hinfällig. Die Eltern haben keine Zeit, sich in Ruhe auf das Kind vorzubereiten. Das freudig erwartete Ereignis versetzt viele in einen Schockzustand. Gerade bei extrem früh Geborenen mit ungewissen Überlebenschancen sind die Ängste enorm. Als besonders belastend empfinden Mütter die Tatsache, dass sie ihr Baby nicht bei sich haben dürfen, es nicht immer wieder anschauen, berühren, streicheln und stillen können. Oft müssen zu früh geborene Babys in einer auf Neugeborene spezialisierten Station umsorgt werden. Sind ältere Geschwister zu betreuen oder wohnen die Eltern weit weg von der Klinik, kann die Situation für die Eltern je nach Unterstützung, die sie von ihrem sozialen Umfeld erfahren, sehr stressig werden. Einerseits versuchen sie, möglichst viel Zeit mit dem Neugeborenen zu verbringen, andererseits wollen sie den Bedürfnissen der älteren Kinder gerecht werden. Eine Untersuchung, die am Universitätsspital Zürich durchgeführt wurde, hat ergeben, dass Eltern eine Frühgeburt zwar als Belastung empfinden, diese jedoch meist die Paarbeziehung festigt und sich positiv auf den Familienzusammenhalt auswirkt.

Die Prognosen

Wie sich Frühgeborene entwickeln, hängt nicht nur vom Geburtszeitpunkt, sondern wesentlich auch von ihrem Elternhaus ab. Denn Frühgeborene sind nicht nur oft auf therapeutische Fördermassnahmen wie Physiotherapie oder Logopädie angewiesen, sondern vor allem auf eine starke Eltern-Kind-Beziehung. Viele sind ängstlicher und brauchen mehr Zuwendung als Termingeborene. In den ersten Lebensjahren sind sie meist etwas kleiner. Schwere körperliche Behinderungen treten heute bei Frühgeborenen selten auf. Bei extrem früh Geborenen sind allerdings Sprachstörungen, Verhaltensstörungen (ADHS), motorische Probleme und auch kognitive Beeinträchtigungen möglich. Langfristig gesehen spielt eine Frühgeburt meist keine Rolle. Auch Frühgeborene erreichen eine gute Lebensqualität – manchmal einfach ein bisschen später.

Wie sehen die Überlebenschancen von Frühgeborenen aus?

In der Schweiz versucht man Frühgeborenen ab der 25. Schwangerschaftswoche (24 0/7) zu helfen, wobei immer Chancen und Risiken abgewogen und mit den Eltern individuell besprochen werden müssen. Frühgeborene Mädchen haben bessere Überlebenschancen als Jungen. Nach der 30. Schwangerschaftswoche hat das Kind eine Chance von 90%, dass es gesund überlebt. Nach der 32. Woche benötigen die meisten Frühgeborenen nur etwas Starthilfe und Zeit, bis sie selber trinken können. Ihre Überlebensrate entspricht jener von Termingeborenen.

Der Inkubator

Frühgeborene sind noch nicht in der Lage, ihre Körpertemperatur zu halten. Ohne Inkubator (ca. 35–36° C), der den Mutterleib imitiert, würden sie schnell auskühlen. Die hohe Luftfeuchtigkeit (ca. 80%) trägt dazu bei, dass sie nicht so viel Flüssigkeit über die Haut verlieren und nicht austrocknen. Dank dieser optimalen Umgebung braucht das Baby weniger Energie für die Beibehaltung der Körpertemperatur. Es liegt nackt im Inkubator, so dass Pflegende und Ärzte Körpersignale oder eine Änderung der Körperfarbe sofort erkennen können. Mit der Zeit wird die Temperatur allmählich reduziert, das Baby wird angezogen und in ein Wärmebettchen gelegt.

Tipps zur Unterstützung von Frühgeborenen

  • Achten Sie beim Umgang mit Ihrem Frühgeborenen immer auf gründliche Handhygiene.
  • Versuchen Sie, möglichst viel Zeit mit Ihrem Frühgeborenen zu verbringen.
    Känguruhen tut Ihrem Kind besonders gut.
  • Pumpen Sie Muttermilch ab, weil diese dazu beiträgt, Ihr Kind vor Infektionen, insbesondere Darminfektionen, zu schützen.
  • Seien Sie sich bewusst, dass Ihr Kind sich in den ersten Lebensjahren möglicherweise etwas langsamer entwickelt und auf mehr Förderung (z.B. Physiotherapie) angewiesen ist.
  • Eine enge Beziehung zu seinen Eltern ist für ein Frühgeborenes besonders wichtig. Verbringen Sie viel Zeit mit Ihrem Kind und spielen Sie oft mit ihm.