Gewaltfreie Erziehung stärkt Kinder

Schon Goethe wusste, dass Kinder Wurzeln und Flügel brauchen. Kinder müssen sich auf vertrauenswürdige Bezugspersonen verlassen können, um stark und unabhängig zu werden.

Zum anleitenden Erziehungsstil, für den sich Kinderschutz Schweiz engagiert, gehört neben einer liebevollen, warmherzigen und aufmerksamen Haltung gegenüber dem Kind auch die Vermittlung von klaren Regeln, Werten und Normen. Anleitung und Führung durch Bezugspersonen sind für Kinder und auch für Jugendliche (obschon es in dieser Altersphase nicht immer so aussieht) von grosser, haltgebender Bedeutung. Wenn Eltern, Grosseltern, aber auch Fachpersonen in Kitas klare Strukturen und Werte vorleben, schaffen sie für das Kind eine sichere Basis, von der aus es die Welt entdecken kann. Das Gelingen dieser Art von Erziehung setzt eine vertrauensvolle, annehmende Haltung dem Kind gegenüber voraus.
Der anleitende Erziehungsstil engt Kinder weder zu stark ein noch gewährt er ihnen grenzenlose Freiheit. Er unterstützt sie auf ihrem Weg hin zu selbstständigen und gefestigten Persönlichkeiten. Um Kinder in ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Erwachsenen begleiten zu können, sollen Bezugspersonen diese Kompetenzen anstreben, ohne allerdings den Anspruch zu haben, perfekt zu sein.

Gewaltfreie Erziehung

Für Erziehungsberechtigte ist die gewaltfreie Erziehung oft eine Herausforderung. Dieser Erziehungsform bedingt, dass sie sich intensiv mit ihrer eigenen Erziehungsgeschichte, mit der Entwicklung des Kindes und mit ihren Bedürfnissen und Grenzen sowie jenen des Kindes auseinandersetzen. Hilfreich kann ein Erziehungskurs, eine Beratung durch eine Fachperson oder das Lesen von Ratgebern. Eltern können Kinder für ihre Zukunft stärken und ihre Selbstwirksamkeit fördern, indem sie eine wertschätzende, entwicklungsfördernde Erziehungshaltung einnehmen, in der Gewalt keinen Platz hat. Denn es gibt immer eine Alternative zur Gewalt.

Die Bedeutung von Gewalt in der Erziehung

Gewalt kann in unterschiedlichen Formen auftreten und reicht von Ablehnung, Ignorieren oder Demütigung über Ohrfeigen und Prügelstrafen bis hin zu Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt. Auslöser ist in vielen Fällen eine Überforderung der Bezugspersonen des Kindes. Oft fehlt es ihnen an Wissen über die Bedürfnisse und Entwicklungsschritte von Kindern. Finanzielle oder emotionale Probleme der Eltern erhöhen die Gewaltbereitschaft.

So wirkt sich Gewalt in der Erziehung aus

Wenn Kinder Gewalt erleben, beeinträchtigt dies ihre Entwicklung und kann schwerwiegende Folgen haben. Damit Kinder sich gesund und ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können, müssen die grundlegenden kindlichen Bedürfnisse  auf angemessene Weise befriedigt werden.
Die Folgen von Gewalt in der Erziehung sind für jüngere Kinder gravierender als für ältere. Ein Grund kann die noch weniger fortgeschrittene Entwicklung von kleinen Kindern sein. Die fehlende Reife führt dazu, dass sie sich weniger vor Gewalt schützen und sich weniger dagegen wehren können. Weiter sind in diesem Alter oft die Eltern die einzigen Bezugspersonen. Kommt die Gewalt von ihnen, hat das Kind keine Ansprechperson, die ihm helfen kann.
Die Auswirkungen psychischer Gewalt werden unterschätzt oder verharmlost. Oft hat das Erleben von psychischer Gewalt (wie Demütigung, Beschimpfung, Ignorieren, Erniedrigung, Liebesentzug, Drohung, Verängstigung usw.) gar schwerwiegendere Auswirkungen auf die emotionale Verfassung von Kindern als das Erleben von körperlicher Gewalt (vgl. Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz 2020.)
Kinder sind angewiesen auf erwachsene Bezugspersonen, die ihnen Achtung entgegenbringen und ihre Persönlichkeit respektieren. Beim Modell der anleitenden Erziehung nehmen die Eltern und die Bezugspersonen ihre Rolle als Erwachsene und ihre Verantwortung als Erziehende wahr. Sie leiten und begleiten die Kinder respektvoll unter Anerkennung von ihren Rechten, Bedürfnissen und ihrer kindlichen Persönlichkeit.

Soziale Norm

In der Schweiz sind auch heute noch viele Menschen davon überzeugt, dass ein Klaps auf den Po oder eine Ohrfeige einem Kind nicht schadet. Manche Eltern, die in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren haben, denken, dass sie ja trotzdem «gut herausgekommen» sind. Verbreitet ist auch die Annahme, dass das Kind schuld ist und es sicher «verdient» hat, wenn Eltern die Hand ausrutscht, was für Tamara Parham, Leiterin Kommunikation bei Kinderschutz Schweiz, inakzeptabel ist: «Die Verantwortung für Gewalt liegt nie beim Kind.» Sich bei Erziehungsfragen Unterstützung zu holen, ist ein Zeichen der Stärke. Die Aufgabe «Eltern sein» fällt einem nicht in den Schoss. Eltern dürfen sich vom Bild der vermeintlich «perfekten Familie» nicht unter Druck setzen lassen. Denn diese gibt es nicht. Familien sind so vielfältig, wie es die Menschen sind.

Gewaltfreie Erziehung: Was Eltern tun können

Tamara Parham empfiehlt Eltern, sich das Positive an ihrem Kind stärker bewusst zu machen. Sie sagt: «Viele Eltern sehen irgendwann nur noch das Negative an ihrem Kind. In Kombination mit dem Alltagsstress kann das zu einer Negativspirale führen.» Betroffene Eltern empfinden alles als schlecht und haben das Gefühl, dass das Kind das Einzige ist, was sie ändern können. «Das ist ein Trugschluss», weiss die Expertin, «wir können nur uns selbst und unseren Umgang mit schwierigen Situationen ändern.»

Durchatmen und bis zehn zählen – Handlungsalternativen finden

Eltern und Erziehungsberechtigte sind sich der kindlichen Bedürfnisse im Allgemeinen klar bewusst. In konkreten Situationen im zeitweilig hektischen Familienalltag fehlt ihnen aber manchmal die Gelassenheit, um besonnen und angemessen auf ihre Kinder zu reagieren. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den eigenen Erziehungsvorstellungen und den damit verbundenen Erwartungen an die Kinder kann helfen, im Erziehungsalltag gelassener zu bleiben und auch in schwierigen Situationen bedacht zu handeln. Der Werkzeugkasten der Handlungsalternativen unterstützt den positiven, gewaltfreien und anleitenden Erziehungsstil auch in hitzigen Momenten.

Tipps für eine gewaltfreie Erziehung

Kinderschutz Schweiz empfiehlt:

  • Machen Sie sich bewusst, was in Ihrem Familienalltag positiv läuft und was Ihr Kind gut macht.
  • Hören Sie Ihrem Kind aufmerksam zu.
  • Seien Sie ein Vorbild für Ihr Kind und versuchen Sie, mit schwierigen Situationen konstruktiv umzugehen.
  • Setzen Sie Ihrem Kind klare Grenzen. Regeln geben ihm Orientierung.
  • Ohrfeigen, ein Klaps auf den Po und Schreien gehören nicht zur Erziehung.
  • Suchen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind nach Lösungsmöglichkeiten.
  • Versuchen Sie nicht, perfekt zu sein. Geben Sie zu, wenn Sie einen Fehler gemacht haben.
  • Kontrollieren Sie Ihren Ärger, nicht Ihr Kind.
  • Holen Sie Hilfe, wenn Sie nicht weiterwissen. Das ist ein Zeichen von Stärke.

 

 

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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.