Eine Frühgeburt verarbeiten

Frühgeburt

In der Schweiz kommen 7 von 100 Neugeborenen als Frühchen, also vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Im Interview erklärt die Psychologin Sabine Ihle, warum eine Frühgeburt für Eltern so belastend ist und was ihnen bei der Verarbeitung hilft.

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lic. phil. Sabine Ihle, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Dipl. Kunsttherapeutin FH und Co-Autorin des Buchs «Kraken kennen keine Berge»

Warum ist eine Frühgeburt für Eltern eine schlimme Erfahrung?

Nicht nur das Kind ist frühgeboren, sondern die ganze Familie. Eine Frühgeburt tritt zwar nicht immer unerwartet ein, stürzt Eltern jedoch häufig in eine emotionale Krise und bringt neben dem ohnehin schon anspruchsvollen Übergang zur Elternschaft weitere Belastungen mit sich. Viele Eltern berichten von Schuldgefühlen, vom Gefühl eines massiven Kontrollverlusts, vom Leiden an der Trennung zum Kind und von Unsicherheiten, die Bindung auf der Intensivstation aufzubauen. Eine Frühgeburt führt häufig zu elterlicher Depressivität und anhaltenden Ängsten. Sie kann eine Familie noch mehrere Jahre beeinträchtigen. Frühgeborene Kinder und ihre Eltern brauchen besondere Begleitung, um eine sichere Bindung aufbauen zu können.

Was empfinden Eltern von Frühgeborenen als besonders belastend?

Eine Frühgeburt verunsichert die Eltern in ihrer intuitiven Kompetenz. Nichts läuft wie gewünscht und erwartet, und die Eltern befinden sich plötzlich in einer Situation, in der in kürzester Zeit existenzielle Entscheidungen getroffen werden müssen. Viele Eltern haben zusätzlich Angst um die Gesundheit ihres Kindes. Väter fühlen sich hin- und hergerissen zwischen der Sorge um die Partnerin und den Bedürfnissen des Kindes. Ausserdem ist es für sie schwierig, die Berufstätigkeit mit dem Wunsch nach Präsenz im Spital zu vereinbaren. Die täglichen Spitalbesuche nehmen viel Zeit in Anspruch.
Für die meisten Eltern ist es eine schmerzvolle Erfahrung, wenn sie die Geburtsklinik ohne ihr Baby verlassen müssen. Als besonders belastend empfinden die Eltern die Unsicherheiten, mit denen sie während Wochen und Monaten konfrontiert sind. Frühgeborene leiden häufig an Atemproblemen, Hirnblutungen, Infekten, Lungenerkrankungen oder Darmentzündungen. Orientierung und Kontrolle gehören zu unseren Grundbedürfnissen. Meist braucht es nach einer Frühgeburt Zeit, bis sich die Eltern wieder sicher fühlen und Vertrauen in sich und in ihr Kind aufbauen können.

Spielen Schuldgefühle eine Rolle?

Ja, vor allem Mütter haben das Gefühl, versagt zu haben. Sie leiden häufig darunter, dass ihr Körper dem werdenden Kind nicht ausreichenden Schutz bieten konnte oder dass sie es nicht so tragen und nähren konnten, wie sie sich das gewünscht hatten. Das Aussprechen von Schuldgefühlen gehört zum Verarbeitungsprozess. Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind und fragen sich darum immer wieder, ob sie etwas anders machen hätten können und wenn ja, was. Wir empfehlen den Eltern, sich diese Fragen auch zu erlauben und bei Bedarf das Gespräch mit Hebammen, Ärztinnen und Ärzten und anderen Fachpersonen zu suchen, um Antworten zu erhalten. Manchmal müssen die Eltern mehrere Male hören, dass sie alles richtig gemacht haben oder getan haben, was sie konnten. Es ist meistens ein länger andauernder Prozess, die Frühgeburt zu akzeptieren und zu verstehen, dass die meisten Frühgeburten auf Faktoren zurückzuführen sind, die ausserhalb der Kontrolle der Eltern liegen. Aber je mehr die Eltern die Frühgeburt akzeptieren, umso mehr Zugang haben sie zu ihren Ressourcen und erkennen, dass Schuldgefühle oft nicht rational und konstruktiv sind.

Warum ist es wichtig, mit dem Kind über seine Frühgeburt zu sprechen?

Dafür sprechen verschiedene Gründe. Indem die Eltern oder Fachpersonen die Frühgeburt thematisieren und dem Kind erklären, welche Herausforderungen es überwinden musste, helfen sie ihm, seine eigene Geschichte, seine Gefühle und sein Verhalten besser zu verstehen. Offene Gespräche über die Frühgeburt, am besten mit Hilfe eines Bilderbuchs, geben den Kind die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Ängste auszudrücken und seine Gefühle zu verarbeiten. So fühlt es sich verstanden und unterstützt. Sein Selbstbewusstsein wird gestärkt, wenn es erfährt, welche Herausforderungen es am Lebensanfang bewältigt hat. Wenn die Eltern mit dem Kind und seinen Geschwistern auch über schwierige Themen und unangenehme Gefühle sprechen, fördern sie die offene Kommunikation in der Familie und erleichtern es den Kindern, auch in Zukunft über Gefühle und persönliche Erfahrungen zu sprechen. Das Gespräch über die Frühgeburt unterstützt das Kind in seiner persönlichen Entwicklung stärkt die Bindung zwischen ihm und seinen Eltern.
Nicht zuletzt bereiten Eltern oder Fachpersonen das Kind durch Gespräche über die Geburt auf mögliche Fragen oder Kommentare von anderen Personen vor. Es stärkt das Kind, wenn es über seinen Lebensanfang sprechen kann.

Wann sollten Eltern mit ihrem Kind über die Umstände seiner Geburt sprechen?

Am besten, wenn es alt genug ist, die Informationen zu verstehen und diese zu verarbeiten. Der Zeitpunkt hängt vom Entwicklungsstand des Kindes ab. Ideal ist es, wenn die Eltern mit ihm im Kindergartenalter einfühlsam und altersgerecht über seine Frühgeburt sprechen und sich von seinen Fragen leiten lassen. Aber es ist nie zu spät, um die Ereignisse rund um die Geburt zu thematisieren. Kürzlich hat mir eine Grossmutter berichtet, wie berührt sie war, mit ihrem erwachsenen Sohn endlich über dessen Frühgeburt zu sprechen.

Tipps zur Verarbeitung einer Frühgeburt

Das hilft Eltern:

    1. Suchen Sie Unterstützung, und tauschen Sie sich mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin, Familienmitgliedern oder einer Therapeutin über Gefühle, Ängste und Hoffnungen aus.
    2. Informieren Sie sich möglichst gut über die Frühgeburtlichkeit, die medizinische Versorgung und die Entwicklung von Frühgeborenen, um die Situation besser zu verstehen.
    3. Erleben Sie sich als selbstwirksam, indem Sie sich schrittweise um die Bedürfnisse Ihres Kindes kümmern.
    4. Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Gefühle. Es braucht Zeit, um zu trauern, sich der Situation anzupassen und sich zu erholen.
    5. Verbringen Sie viel Zeit mit Ihrem Kind. Der Hautkontakt während des Känguruhens und die Pflege des Kindes stärken die Eltern-Kind-Bindung und geben Ihnen Sicherheit.
    6. Kümmern Sie sich um ihre körperliche und emotionale Gesundheit, zum Beispiel durch Rituale im Alltag, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und Zeit für Entspannung und Freude. Davon profitiert auch Ihr Kind.
    7. Tauschen Sie sich mit anderen betroffenen Eltern aus und ermutigen Sie sich gegenseitig.
    8. Feiern Sie jeden Fortschritt Ihres Kindes. Seien Sie sich bewusst, dass auch Rückschritte dazugehören.
    9. Seien Sie geduldig mit Ihrem Kind und mit sich selbst. Die Genesung und Entwicklung kann Zeit brauchen, aber mit Liebe, Geduld und Unterstützung können Sie zusammen mit Ihrem Kind die Herausforderung bewältigen.
    10. Lassen Sie sich von Ihrem Kind leiten. Häufig sind es die Kinder, die den Eltern Kraft geben, die schwierigen Erlebnisse zu verarbeiten und die Situation der frühen Geburt zu akzeptieren.

Buchtipp: «Kraken kennen keine Berge»

Das Buch zum Thema Frühgeburt eignet sich zum gemeinsamen Anschauen ab dem Alter von drei Jahren. Der Text lässt Raum für Themen und Geschichten jeder Familie. Frühgeborene Kinder werden durch das Buch angeregt, die Erfahrungen rund um ihre frühe Geburt spielerisch zu verarbeiten. So können sie bei Schuleintritt selbstbewusst über ihren Start ins Leben sprechen und erleben sich im besten Falle als resilient. Die Geschichte ist aus der Perspektive der imaginären Freundin, der Krake Tinti, erzählt. Tinti gibt niemals auf, verliert den Humor nie und begleitet Kinder dabei, alle Gefühle zu erleben und auszudrücken. Das Buch von Sabine Ihle und Julia Krohn ist 2024 im Hogrefe-Verlag erschienen.

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Filed under: Schwangerschaft & Geburt

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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.