Frühe Förderung

Frühe Förderung

Heute ist das Angebot an Fördermöglichkeiten für die Kleinsten riesig. Doch was braucht ein Kind in seinen ersten Lebensjahren wirklich? Diese und andere Fragen beantwortet der Entwicklungspädiater und Besteller-Autor Remo Largo im folgenden Interview.

Eine der wichtigsten Botschaften in Ihrem Buch «Babyjahre» ist die Feststellung, dass jedes Kind anders ist und sich in seinem eigenen Tempo entwickelt. Wie können Eltern ideale Bedingungen für eine gute Entwicklung im Babyalter schaffen?

Die grösste Herausforderung für die Eltern ist wohl, dass sie sich nicht allein von ihren Erwartungen und Ängsten leiten lassen. Sie sollten sich vielmehr bemühen, die Bedürfnisse, die ihr Kind äussert, ernst zu nehmen und adäquat zu befriedigen. Wie viel Nahrung es beispielsweise benötigt, weiss nur das Kind selbst und nicht die Eltern – und schon gar nicht die Nahrungsmittelindustrie mit ihren Angaben auf den Milchpackungen.

Prof. Remo H. Largo, Entwicklungspädiater und Bestseller-Autor

Alle Eltern wollen für ihr Kind nur das Beste. Wie lernen Kinder eigentlich in den ersten fünf Lebensjahren?

In den ersten Lebensjahren lernen Kinder auf zwei Arten. Erstens durch Vorbilder, denen sie Tätigkeiten abgucken und die sie nachahmen. So lernen sie beispielsweise am Familientisch, mit dem Löffel zu essen. Als Vorbilder dienen die Eltern und andere Bezugspersonen, Geschwister und andere Kinder. Zweitens beschäftigen sich die Kinder mit Gegenständen und lernen dabei ihre gegenständliche Umwelt kennen. An den Eltern liegt es, ihnen als Vorbild zu dienen und wichtige Erfahrungen zu ermöglichen.

Nie lernt ein Mensch in seinem Leben so leicht wie in der frühen Kindheit. Wäre es denn nicht sinnvoll, Kinder im Vorschulalter stärker zu fördern? Wie sähe die optimale Förderung aus?

Die optimale Förderung besteht für mich darin, dass die Eltern ihren Kindern all jene Erfahrungen ermöglichen, die sie benötigen, um ihre Grundkompetenzen wie Sprache, Sozialverhalten oder Motorik bis ins Alter von etwa fünf Jahren zu entwickeln. 

Viele Babys und Kleinkinder haben heute Agenden, die jenen von Managern gleichen. Die Eltern begleiten ihre Sprösslinge in allerlei Kurse – von Babyzeichensprache über Frühenglisch, Kunst, Musikunterricht bis hin zu Tanzkursen für die Kleinsten wird heute vieles angeboten. Was halten Sie davon?

Gar nichts. Eine kindgerechte Förderung besteht meines Erachtens nicht darin, dass die Kinder in Kurse geschickt werden. Sie sollen vielmehr ihre Grundkompetenzen entwickeln können. Es gibt keine Studie, die zeigen würde, dass eine Förderung, die über die Grundkompetenzen hinausgeht, langfristig Vorteile bringt. Diese «überförderten» Kinder sind in der Schule nicht erfolgreicher. Im Gegenteil, es kommt sogar vor, dass sie vor lauter Kursen ihre Grundkompetenzen nicht ausreichend entwickeln konnten. 

In den ersten Lebensjahren lernen Kinder eine neue Sprache besonders leicht. Weshalb stehen Sie Kursen wie zum Beispiel Frühenglisch für Vorschulkinder kritisch gegenüber?

Die Kinder müssen zuerst die Erstsprache ausreichend beherrschen. Dazu brauchen sie mindestens fünf Jahre. Daneben können sie durchaus eine Zweitsprache lernen, aber nicht in Kursen, sondern im alltäglichen Austausch z.B. mit einer Tante oder einer Kinderfrau, die eine Zweitsprache perfekt spricht. Wichtig: Eine Person soll immer nur eine Sprache sprechen, sonst wird das Kind verwirrt.

Sie plädieren dafür, dass Kinder Kontakt zu anderen Kindern haben müssen. Warum ist der Kontakt zu Gleichaltrigen so wichtig? Wie viel Kontakt zu Gspänli braucht ein Kind?

Kinder brauchen den Austausch mit anderen Kindern, älteren und jüngeren, ab dem zweiten Lebensjahr während mehrerer Stunden am Tag. Kinder sind die besten Lehrmeister. Vieles können Erwachsene einem Kind nicht so gut beibringen wie andere Kinder. Sprache beispielsweise wird mit anderen Kindern viel intensiver eingeübt als mit Erwachsenen. Welcher Erwachsene nimmt sich schon die Zeit, stundenlang mit einem Kind zu reden? Dies gilt genauso für das Beziehungsverhalten oder die motorische Geschicklichkeit. 

Einige Studien belegen, dass Kinder, die in einem privilegierten und bildungsnahen Umfeld aufwachsen, schon im Kindergartenalter bessere Chancen haben als Kinder von Eltern mit geringer Schulbildung. Wie könnte man die Startchancen für alle Kinder in der Schweiz verbessern?

Kinder aus bildungsfernen Familien sollten in den ersten Lebensjahren folgende Entwicklungserfahrungen machen können: mit anderen Bezugspersonen und vor allem mit anderen Kindern zusammen sein, die ihnen Vorbild sind, sprachlichen und sozialen Austausch und Erlebnisse ermöglichen, die beispielsweise ihre motorische Entwicklung fördern.

Inwiefern haben Kinder, die eine Krippe besuchen, Vorteile gegenüber Gleichaltrigen, die ausschliesslich von der Mutter betreut werden?

Die Vorteile können je nach den Lebensbedingungen in der Kleinfamilie vielfältig sein. Die wichtigsten sind: Erfahrungen mit anderen Kindern. Auch die kompetenteste Mutter kann andere Kinder nicht ersetzen. In der Krippe machen die Kinder zudem Erfahrungen, die in der Kleinfamilie immer weniger möglich sind, beispielsweise können sie den Bewegungsdrang ausleben und die motorischen Fähigkeiten ausbilden, indem sie draussen herumtollen oder im Wald spielen. 

Was können Eltern tun, um ihr Kind optimal zu fördern?

Das Kostbarste, was die Eltern ihrem Kind geben können, ist ihre Zeit: gemeinsam mit dem Kind Erfahrungen machen, Gespräche führen und ganz einfach mit ihm zusammen sein.

Haben Sie gewusst,

dass Kinder in den ersten Lebensjahren auf zwei Arten lernen? Erstens durch Vorbilder, denen sie Tätigkeiten abgucken und die sie nachahmen. Als Vorbilder dienen die Eltern und andere Bezugspersonen, Geschwister und andere Kinder. Zweitens beschäftigen sich die Kinder mit Gegenständen und lernen dabei ihre gegenständliche Umwelt kennen.