Wenn Kinder streiten

Es ist ganz normal, dass Kinder miteinander harmonische und konfliktreiche Phasen erleben. Streiten gehört zur Entwicklung eines Kindes. Interessant ist, dass Babys und Kleinkinder unter zwei Jahren um anderes streiten als Kinder, die älter sind.

Streit um Spielsachen

Während man früher annahm, dass sich schon die Kleinsten um Besitz wie zum Beispiel ein Spielzeug balgen, weiss man heute, dass es um jeweils alterstypische Interessen geht. «Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Besitz für Kinder in den ersten zwei Jahren kein Thema ist. In diesem Alter wollen Kinder in erster Linie von einem sicheren Hafen aus die Welt entdecken. Beides birgt Zündstoff für Konflikte», erklärt Heidi Simoni, Psychologin und ehemalige Leiterin des Marie Meierhofer-Instituts für das Kind in Zürich. Auf der einen Seite wehren sich Kinder zum Beispiel, wenn sie beim Untersuchen eines Spielzeugs gestört werden, auf der anderen Seite stören sie ihrerseits ein anderes Kind beim Spielen, weil ihr Interesse an einem Spielzeug geweckt wird, weil jemand anderes damit hantiert. Spannend ist zudem, dass manche Kinder bereits im zweiten Lebensjahr zwar stark reagieren, wenn sie in ihrem Tun behindert werden, Konflikte aber aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch kaum persönlich nehmen. Deshalb kommt es nicht bei jeder Auseinandersetzung zu Tränen.

Wenn ein Kind Spielsachen wegnimmt

Um den zweiten Geburtstag herum ist das Ich-Gefühl voll entwickelt. Das Kind lernt zu unterscheiden, was «Mein» und «Dein» bedeutet, und beginnt Spielsachen zu verteidigen oder sie anderen Kindern wegzunehmen. In Konflikten erfährt ein Kind viel über sich selbst und über die anderen. «Das Kind lernt zum Beispiel, welche Reaktionen es beim Gegenüber durch sein Handeln auslöst, wie vehement es sich wehren kann, damit gemeinsames Spielen noch möglich bleibt, oder wie man nach einem Konflikt wieder zueinanderfindet», sagt Heidi Simoni. Kinder unter zwei Jahren verstehen diese Zusammenhänge jedoch noch nicht – trotzdem sind bereits die frühen Erfahrungen wertvoll. Ein anderthalbjähriges Kind bringt ein anderes Kind nicht absichtlich zum Weinen. Es erfährt aber, dass es mit seinem Verhalten etwas auslöst. Zweijährige testen hingegen neue Möglichkeiten aus und verhalten sich manchmal auch gemein.

Kind braucht Kontakt zu anderen Kindern

Gerade zwischen Kindern, die sich vertraut sind und sich mögen, wechseln sich harmonische und konflikthafte Episoden ab. Kinder, die wenig Kontakt zu anderen Kindern haben, verpassen viele Möglichkeiten, Interessenkonflikte zu meistern. Es kann ihnen später Mühe bereiten, sich in einer Kindergruppe zurechtzufinden, weil sie keine Erfahrung darin haben, sich mit anderen abzustimmen. Entweder wehren sie sich zu wenig und können ihre Interessen nicht anmelden. Oder sie kennen kein Mass und vergraulen damit die anderen Kinder. Kinder, die schon von klein auf viele unterschiedliche Erfahrungen mit anderen Kindern und Erwachsenen sammeln, können für Erwachsene allerdings auch unbequem sein, weil sie sich sozial weiter auf die Äste hinauswagen.

Eingreifen bei Streit zwischen Kindern – aber wann?

Heidi Simoni rät Eltern, nicht bei jedem Streit, an dem ihr Kind beteiligt ist, sofort einzugreifen. «Viele Konflikte können Kinder selber lösen. Sie finden Kompromisse, oder die Streitereien gehen mal zugunsten des einen, mal zugunsten des anderen aus», sagt die Expertin. Meist können sie sich auch gut wieder versöhnen. Greifen Eltern zu schnell ein, können Kinder diese wichtigen Erfahrungen nicht machen. Die Erwachsenen müssen jedoch für die Kinder verfügbar sein. Nur wenn Kinder sich sicher und geschützt fühlen, können sie fruchtbare Erfahrungen im Umgang miteinander sammeln. Wenn die Erwachsenen die ihnen anvertrauten Kinder gut kennen, ist es leichter, abzuschätzen, ob die Kinder Unterstützung brauchen. Wichtig ist, dass die Eltern wissen, ob ein Kind sich vehement für seine Interessen einsetzt oder rasch nachgibt. Besteht Verletzungsgefahr für andere, müssen Eltern auf jeden Fall eingreifen. «Eltern aggressiver Kinder, die meinen, dass die anderen Kleinen einfach lernen müssen, sich zu wehren, handeln fahrlässig», sagt Heidi Simoni. Sie lassen ausserdem ihr eigenes Kind mit seiner Unbeholfenheit im Stich. Eltern sollten auch eingreifen, wenn ihr Kind von anderen geplagt wird, also immer der Verlierer oder die Verliererin ist.

Wenn das Kind aggressiv ist

Es gibt Kinder, die aggressiv sind, weil sie nicht wissen, wie sie mit anderen Kindern Kontakt aufnehmen können. Sie kneifen zum Beispiel ein anderes Kind, obwohl sie nicht böse auf es sind, sondern – im Gegenteil – mit ihm spielen wollen. Manchmal handelt es sich dabei um eine vorübergehende Krise. Etwa in der Phase, in der Kinder sprechen lernen, werden manche ungeduldig und grob, weil sie mehr sagen möchten, als sie bereits können. Bei etwas grösseren Kindern kann hinter grobem Verhalten hingegen ein ernsthaftes Entwicklungsdefizit oder eine innere Not stecken. Heidi Simoni rät betroffenen Eltern, sich von einer Fachperson beraten zu lassen. Manche Kinder reagieren plötzlich aggressiv, wenn es in der Familie zu Veränderungen kommt, die sie verunsichern. Wenn zum Beispiel ein Geschwisterchen auf die Welt kommt, muss manchmal die Freundin oder der Freund dafür «büssen».

Eingreifen bei Streit zwischen Geschwistern

Wichtig ist, dass Eltern bei Streitereien zwischen Geschwistern eingreifen, wenn das eine Kind das andere zu verletzen droht oder eines dem andern immer unterlegen ist. Es ist aber normal, dass die älteren Kinder den jüngeren in vielen Situationen überlegen sind und das manchmal auch ausnützen. Auch Geschwister, die sich gernhaben, streiten oft, haben aber mindestens ebenso viele gute Momente miteinander.

Wenn das Kind grob ist

Wendet sich ein Kind zerstörerisch oder verletzend gegen andere Kinder oder gegen Erwachsene, gilt es, dieses Verhalten möglichst früh und konsequent zu unterbinden. Sonst lernt ein Kind, dass Grobheit sich lohnt, und es verpasst, andere soziale Möglichkeiten zu entdecken. Kinder brauchen klare Leitplanken und Modelle, also Erwachsene, die ihnen eine positive Streitkultur vorleben. Einen Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und Fremdbetreuung gibt es laut Heidi Simoni übrigens in der Regel nicht. Stimmt jedoch das Gleichgewicht zwischen Familienalltag und familienergänzender Betreuung für die Familie nicht, kann dies für Eltern und Kind zu einer aufgeladenen Stimmung führen.

So greifen Sie bei Streit sinnvoll ein

  • Gehen Sie zu den streitenden Kindern hin. Rufen Sie nicht einfach über den Spielplatz.
  • Treten Sie ruhig und gelassen, aber auch bestimmt auf.
  • Machen Sie das plagende Kind nicht zum Schuldigen; trösten Sie das weinende Kind, ohne im Konflikt Partei zu ergreifen.
  • Verzichten Sie auf Moralpredigten.
  • Ermahnen Sie das aggressive Kind deutlich.
  • Nehmen Sie den Grund für den Streit ernst.
  • Schlagen Sie alternative Verhaltensweisen vor, welche die Kinder nachvollziehen können.
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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.