Wenn das Kind nicht gut sieht

Einige Augenprobleme im Kindesalter können gravierende Folgen haben, wenn sie unentdeckt bleiben.

Etwa fünf bis zehn Prozent der Kinder in der Schweiz sind von einer Sehschwäche betroffen. Sie schielen oder leiden an einer Hornhautverkrümmung, an Weit- oder Kurzsichtigkeit. Eine Sehschwäche wird nicht immer auf Anhieb erkannt. Der Augenarzt und -chirurg Panagiotis Kouros aus Kilchberg weiss, weshalb das so ist. Weitsichtige Kleinkinder haben zwar Mühe, in der Nähe gut zu sehen. Sie können jedoch bis zu 14 Dioptrien durch Anspannen des inneren Augenmuskels kompensieren. Dabei verformt sich die flexible Augenlinse in eine kugeligere Form, und scharfes Sehen im Nahbereich wird möglich.
Der Spezialist führt weiter aus: «Auch Kurzsichtigkeit ist in den ersten Lebensjahren nicht immer offensichtlich, da Vorschulkinder sich zu Hause oder in der Kinderkrippe in einem Umfeld bewegen, in dem sie nur in der Nähe gut sehen müssen.»

Sehtest für Kinder

Ein altersgerechter Sehtest gehört zur kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchung. Im sogenannten Lang-Stereotest kann ab etwa drei Jahren das räumliche Sehen im Kleinkindalter geprüft werden. Aber auch manche Einjährige reagieren schon auf diesen Test, wenn ihre Aufmerksamkeit auf die Figuren auf der gepunkteten Prüfkarte gelenkt wird. Ein Kind, das nicht schielt, erkennt normalerweise drei versteckte Bilder – eine Katze, einen Stern und ein Auto – und reagiert darauf. Bei Kindern ab etwa zweieinhalb bis drei Jahren ist zudem ein Sehtest mit Symbolen möglich. Besteht Verdacht auf eine Sehschwäche, wird das Kind an eine Augenarztpraxis überwiesen, wo weitere Tests durchgeführt werden. Durch Einträufeln von Tropfen wird der innere Muskel der Augen vorübergehend gelähmt, so dass das Kind seine Sehfähigkeit nicht mehr durch Anspannen des Muskels beeinflussen kann. Die Augenärztin oder der Augenarzt kann nun die Augen bei entspanntem Muskel sorgfältig untersuchen, die effektive Brechkraft und eine allfällige Sehschwäche ermitteln und die Netzhaut gründlich kontrollieren.

Wie gut sieht das Kind?

Die Augen entwickeln sich schneller als andere Organe: Bei der Geburt sind die meisten Kinder weitsichtig. Mit vier Jahren liegt die Sehschärfe (Visus) bei ca. 80 Prozent, mit sechs bis acht Jahren bei 100 Prozent. In diesem Alter ist der Augapfel ausgereift. Die Fähigkeit, scharf zu sehen, entwickelt sich am besten, wenn das Kind auf beiden Augen gleich gut sieht. Kleine Kinder nehmen es aber nicht wahr, wenn das nicht der Fall ist. Überhaupt können sie es nicht selbst feststellen, wenn sie schlecht sehen. Kinder mit einer Sehschwäche kennen die Welt nicht anders und wissen nicht, wie es ist, scharf zu sehen.

Kind sieht auf einem Auge schlecht

Eine Sehschwäche zu erkennen, ist besonders schwierig, wenn das Kind nur auf einem Auge schlecht sieht. In diesem Fall unterdrückt das Gehirn den Seheindruck des «schlechten» Auges und verarbeitet nur jenen des «guten». Man muss sich das so vorstellen: Im Hirn liefern sich beide Augen einen Wettstreit. Wenn ein Auge gut sieht, übernimmt es die Führerschaft, was bewirkt, dass das «schlechte» Auge noch schwächer wird.

Wenn das Kind schielt

Von Schielen spricht man, wenn die Sehachsen beider Augen nicht parallel ausgerichtet sind. Man unterscheidet zwischen permanenten und versteckten Formen des Schielens. Kinder, die mit einem Auge permanent einwärts schielen, sind auf diesem Auge oft weitsichtig. «Dass ein Kind schielt, ist nicht immer offensichtlich, vor allem wenn es sich um Mikroschielen handelt», erklärt Panagiotis Kouros. Diese Form des Schielens, bei der die Achsen der Augen nur um ein bis zwei Grad nach innen abweichen, bezeichnet man im Volksmund als Silberblick. Mikroschielen wird in Stereotests, z.B. dem Lang-Test, oft nicht erkannt.
Schielen wird durch Abdecken des «guten» Auges behandelt. Dadurch wird beim Sehen nur das «schlechte» Auge beansprucht. Beim Mikroschielen kann die Therapie schwieriger sein, auch weil betroffene Kinder die Abdecktherapie weniger gut akzeptieren. Obwohl sie auf dem schielenden Auge eine Sehschärfe von 100 Prozent haben können, bereitet ihnen das Trennen von Symbolen, zum Beispiel von Buchstaben, Mühe.
Wenn ein Kind stärker schielt und durch Abdecken des schwächeren Auges die gleiche Sehkraft auf beiden Augen erreicht hat, ist eine Operation zur Korrektur des Schielens möglich. Bei Mikroschielen wird nicht operiert. Nicht alle Formen des Schielens bedürfen einer Therapie.

Augentraining für Kinder

Wenn ein Kind auf einem Auge unscharf sieht, wird es damit ohne Training immer schlecht sehen – mit gravierenden Konsequenzen. Panagiotis Kouros sagt dazu: «Eine einseitige Sehschwäche kann die 3-D-Sichtigkeit und somit das räumliche Sehen beeinträchtigen.» Wie beim Schielen wird auch bei der einseitigen Schwachsichtigkeit das «gute» Auge abgedeckt, damit die Sehfähigkeit des «schlechten» Auges trainiert wird. Laut dem Experten ist das Zeitfenster für eine Behandlung begrenzt: «Ein schwachsichtiges Auge muss möglichst früh trainiert werden, am besten noch vor dem Schuleintritt.» Das hat auch den Vorteil, dass das Kind in der Schule dem Unterricht besser folgen kann. Permanentes Schielen sollte vor Schuleintritt operativ behandelt werden, damit das Kind nicht gehänselt wird.
Mit acht Jahren müsste ein Kind perfekt scharf sehen, wenn sich die Augen normal entwickeln. Nach dem zwölften, manchmal schon nach dem zehnten Geburtstag kann die Sehschärfe des schwächeren durch Abdecken des stärkeren Auges nicht mehr verbessert werden. Schwachsichtigkeit auf einem oder beiden Augen kann zu einer Einschränkung der Möglichkeiten bei der Berufswahl führen. Bei stark reduzierter Sehschärfe ist zum Beispiel die Ausbildung zum Berufspiloten nicht möglich.

Abdecken oder Abkleben des Auges

Panagiotis Kouros empfiehlt, am Anfang das «gute» Auge mit einem Spezialpflaster abzukleben, weil das am effektivsten ist. Später sei es auch möglich, das Brillenglas auf der Seite des «guten» Auges mit einer Folie oder einem Patch abzudecken. Von einer Behandlung mit Tropfen rät er eher ab, weil diese Nebenwirkungen haben können. Die meisten Kinder empfinden die Therapie als mühsam. Um die Sehschärfe zu verbessern, muss die Behandlung aber konsequent durchgeführt werden. Warum dies so wichtig ist, können Eltern ihrem Kind am besten mit einem Beispiel aus dem Sport erklären: «Du gehst ins Fussballtraining, damit du besser Fussballspielen lernst. Durch das Abdecken machst du das Gleiche mit deinem Auge, das unscharf sieht.» Panagiotis Kouros sagt: «Die Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie für die Durchführung der Therapie verantwortlich sind und den Therapieerfolg massgeblich beeinflussen.»

Wann muss das Kind zum Augenarzt?

Auch Kinder können schon von gravierenden Augenkrankheiten betroffen sein. Panagiotis Kouros rät Eltern, sofort eine Augenarztpraxis aufzusuchen, wenn die Pupillen des Kindes weisslich erscheinen. Er erklärt: «Dahinter kann eine lebensbedrohliche Krankheit stecken, zum Beispiel eine Netzhautablösung aufgrund einer Gefässerkrankung oder Krebs im Auge, der von der Netzhaut ausgeht.» Sehr selten sind schon Kinder vom grauen Star betroffen. Auch eine Rötung der Augen, heftige Augenschmerzen, das Wahrnehmen von Lichtblitzen, Verletzungen am Auge oder Fremdkörper im Auge müssen abgeklärt werden. Eine Rötung der Augen hat häufig, aber nicht immer harmlose Ursachen.

Anzeichen, dass Kind nicht gut sieht

Ihr Kind kann von einer Sehschwäche betroffen sein, wenn es

  • häufig ungeschickt ist,
  • oft stolpert,
  • beim Spielen danebengreift,
  • Dinge umwirft,
  • Sachen fallen lässt,
  • Mühe hat, sich zu orientieren,
  • Bilderbücher dicht vors Gesicht hält,
  • die Augen oft zukneift,
  • häufig Kopfschmerzen hat,
  • über müde oder brennende Augen klagt
  • oder nach innen schielt.
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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.