Schutz vor sexuellem Missbrauch

Sexuelle Ausbeutung in der Kindheit kann ein Leben lang traumatisieren. Was Eltern darüber wissen müssen, erklärt Xenia Schlegel, Leiterin Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz, im Interview.

Von wem werden Kinder sexuell missbraucht?

Täter und Täterinnen stammen meist aus der Familie oder dem nahen Umfeld der Familie. Häufig geniessen sie das volle Vertrauen der Eltern. In über 95% der Fälle werden die Übergriffe von Männern verübt. Bei innerfamiliärer Gewalt an Mädchen ist in rund 80% der Fälle der Vater oder Stiefvater der Täter.

Trotzdem fürchten sich viele Eltern vor einem fremden Täter.

Ja, das ist so. Tatsache ist aber, dass es äusserst selten vorkommt, dass Fremdtäter ein Kind zum Beispiel auf dem Weg zum Kindergarten abpassen, um es zu missbrauchen. Eher kann es sein, dass ein potenzieller Täter über einen längeren Zeitraum versucht, eine Vertrauensbeziehung zum Kind aufzubauen. Deshalb ist es wichtig, dass sich das Kind seinen Eltern von klein auf anvertrauen und regelmässig mit ihnen über seinen Alltag sprechen kann. Die alte Warnung, dass Kinder keinesfalls mit fremden Personen mitgehen sollten, gilt auch heute noch. Dabei sollten die Eltern ihrem Kind jedoch nicht Angst machen, sondern beispielsweise erklären, dass es davonlaufen soll, wenn es sich bei der Begegnung mit einer fremden Person nicht wohl fühlt oder Angst hat. Stellt eine fremde Person dem Kind sehr persönliche Fragen, um eine Beziehung aufzubauen, soll es sagen dürfen, dass es keine Antwort geben will. Im Vorschul- und im Primarschulalter sollten die Eltern immer mit dem Kind absprechen, wenn es allein jemanden besuchen will.

Wie können Eltern ihr Kind von klein auf vor sexuellem Missbrauch schützen?

Durch ihre Erziehungshaltung können sie sein Selbstbewusstsein und seine Abwehrmechanismen stärken, damit es für Täter und Täterinnen weniger attraktiv ist. Oft suchen sich diese gezielt Opfer aus, die wenig Selbstbewusstsein ausstrahlen und emotional bedürftig wirken. Diese Kinder trauen sich meist nicht, über die erlittene Gewalt zu reden, und reagieren auf das Beziehungsangebot der erwachsenen Person positiv. Bei allen Empfehlungen an Eltern und Kinder ist jedoch wichtig: Die Verantwortung für sexuelle Gewalt tragen immer die Täter und Täterinnen und niemals die Eltern oder das ausgebeutete Kind.

Welche Erziehungshaltung würden Sie empfehlen?

Eltern können ihre Kinder stärken, indem sie sie dazu ermuntern, ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihnen zu vertrauen, indem sie die Signale und Grenzen der Kinder respektieren und ihnen beibringen, dass sie ihrerseits die Grenzen anderer Menschen respektieren sollen. Ausserdem sollten sie ihre Kinder ermutigen, Hilfe zu holen, wenn es ihnen nicht gut geht.
Einen wichtigen Stellenwert in der Prävention von sexueller Gewalt hat auch die Sexualerziehung. Kinder sollen ihren Körper entdecken und sich angenehme körperliche Gefühle verschaffen dürfen. Sie sollen ein positives und unverkrampftes Verhältnis zum eigenen Körper und zu den Geschlechtsteilen entwickeln. Die Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, ist umso grösser, je mehr Defizite ein Kind in Bezug auf Sicherheit, Zuwendung, Anerkennung, Liebe und zwischenmenschliche Wärme aufweist.

Welche Strategien wenden Täter an?

Häufig versuchen sie gezielt, eine Vertrauensbeziehung zum Kind und oft auch zu den Eltern aufzubauen. Übergriffe gehen oft von Menschen aus, die als besonders engagierte Kinderfreunde, fürsorgliche Familienväter oder liebevolle Erzieherinnen gelten. Meist bereiten sie den Übergriff sorgfältig vor, wägen die Risiken genau ab und suchen sich besonders verletzliche Kinder aus. Nach der ersten Kontaktaufnahme prüfen sie die Widerstandsfähigkeit des potenziellen Opfers.
Sexuelle Ausbeutung von Kindern beginnt in der Regel nicht mit einer Vergewaltigung, sondern fast immer damit, dass der Täter oder die Täterin dem Kind besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das Kind soll zum Komplizen gemacht werden. Die scheinbare Anerkennung und Wertschätzung ist ein klassisches Täuschungsmanöver, um das Vertrauen des Opfers zu gewinnen und nach sorgsamer Vorbereitung seinen Widerstand zu brechen. Täter nutzen das Vertrauen des Kindes aus, um es zu einer sexuellen Handlung zu überreden oder ihm einzureden, dass die sexuelle Handlung gut sei. Wehrt sich ein Opfer, wird es durch Schikanen und Gewalt zum Schweigen gebracht. Viele Opfer fühlen sich am Geschehenen mitschuldig.

Wie sollen Eltern bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch reagieren?

Ruhe bewahren, ihr Kind ernst nehmen, es unterstützen und schützen. Ich rate betroffenen Eltern unbedingt von einer Konfrontation mit dem mutmasslichen Täter ab. Besser ist es, in Absprache mit dem Kind Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen (Opferberatungsstellen, eventuell Behörden oder Kinderschutzfachstellen). Eine Benachrichtigung der Polizei sollte möglichst zuerst mit dem Opfer abgesprochen werden.

Tipps zum Schutz vor sexuellem Missbrauch

Als Eltern können Sie Ihr Kind mit den folgenden Kernbotschaften in seinem Selbstbewusstsein und in seinen Abwehrstrategien stärken. Es soll wissen, dass es ein Recht auf Selbstbestimmung hat, wenn es um seinen Körper geht. Vermitteln Sie ihm, dass es seine Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen ernst nehmen soll.
1. Dein Körper gehört dir!
2. Vertraue deinem Gefühl!
3. Es gibt gute, schlechte und «komische» Berührungen.
4. Du darfst Nein sagen!
5. Es gibt gute und schlechte Geheimnisse.
6. Du bist schlau, du holst Hilfe.
7. Du bist nicht schuld!