Hilfe, unser Kind lügt und stiehlt

Stehlen und Lügen verstossen gegen unsere Moralvorstellungen. Wenn ein Kind es trotzdem tut, sehen das die meisten Eltern als Vertrauensbruch.

Kinder werden ohne Moral geboren und müssen Regeln erst lernen. Das ist auch gut so. Anna von Ditfurth, Erziehungsberaterin im Frühbereich aus Horgen, dazu: «Wüssten Babys, dass man anderen Menschen zum Beispiel nicht einfach ins Gesicht fasst oder Steine nicht vom Boden aufhebt und in den Mund steckt, würden sie in ihrer Entwicklung zurückgebunden. Babys erkunden ohne Werte im Kopf, was man tun sollte und was nicht. So lernen sie am schnellsten.» Unsere Moralvorstellungen integrieren Kinder erst ab etwa zwei Jahren allmählich. Zwischen dem vierten und dem sechsten Lebensjahr üben Kinder dann, Regeln aufzustellen und einzuhalten, oder schauen, was passiert, wenn man sie nicht einhält.

Was hinter dem Stehlen steckt

Wenn ein Kind in den ersten vier Lebensjahren mal ein Spielzeug mitlaufen lässt, kann man laut Anna von Ditfurth nicht von Stehlen sprechen, denn in diesem Alter können sich Kinder noch nicht in ihr Gegenüber versetzen. Stiehlt ein Kind, das älter ist als vier, ist dies ebenfalls kein Grund zur Panik. «Bei Kindern zwischen vier und sechs Jahren kann es immer wieder vorkommen, dass sie gewisse Regeln einfach vergessen. Das gehört zur normalen kognitiven Entwicklung», so die Fachfrau. Auch wenn Kinder in diesem Alter genau wissen, dass Stehlen nicht in Ordnung ist, tun sie es manchmal trotzdem, wenn ihnen etwas wahnsinnig gut gefällt. Sie vergessen also vor lauter Wunsch alle Regeln und versetzen sich nicht mehr in das bestohlene Kind. Vielen Kindern fällt es sehr schwer, zu warten bis ein Wunsch erfüllt wird.

Nicht nach dem Warum fragen

Ertappen Eltern ihr Kind beim Stehlen, sind sie meist entsetzt und konfrontieren das Kind mit Warum-Fragen. Davon rät Anna von Ditfurth ab. Es bringt auch nichts, sich zu fragen, was man bei der Erziehung falsch gemacht hat. Besser ist es, erst einmal zu sagen: «Das ist doch Lisas Dose. Wann willst du sie ihr zurückgeben? Kann es sein, dass du sie mitgenommen hast, ohne zu fragen?» Im nächsten Schritt sollten die Eltern gegenüber dem Kind die eigenen Gefühle bzw. die eigene Haltung ausdrücken: «Mir ist wichtig, dass wir Lisa ihre Dose zurückgeben.» In diesen Gesprächen sollten die Eltern das Kind entlasten, damit es offen mit ihnen sprechen kann, zum Beispiel so: «Gell, dir hat diese Dose so gut gefallen, dass du sie unbedingt haben wolltest.» Auch das Kind soll die Gelegenheit haben, zu beschreiben, was in ihm dabei vorgegangen ist. Es soll über seinen grossen Wunsch sprechen können und gleichzeitig verstehen, dass Wünsche in Ordnung sind, aber mitnehmen ohne zu fragen nicht. Für Kinder ist es wichtig, dass manche Wünsche in Erfüllung gehen. Das heisst aber nicht, dass der Wunsch sofort erfüllt werden muss. Wenn die Eltern dem Kind die Zuversicht vermitteln, dass ein Wunsch zum Beispiel an Weihnachten oder am Geburtstag in Erfüllung gehen kann, steigt seine Frustrationstoleranz.

Stehlen und Lügen

Ein Kind muss erst lernen, dass es im Leben zentral ist, Besitz von Mitmenschen zu respektieren. Das gelingt meist, wenn die Erwachsenen respektvoll mit Gegenständen des Kindes umgehen und zum Beispiel nicht einfach Lieblingskleider verschwinden lassen. Lässt das Kind bei einem Gspänli etwas mitlaufen und streitet das gegenüber seinen Eltern ab, müssen diese sanft und ruhig dranbleiben, bis es die Wahrheit sagt – ohne Androhung von Strafe. Sie können zum Beispiel sagen: «Ich verstehe, wenn dir das jetzt unangenehm ist, aber ich helfe dir, und wir können zusammen überlegen, wie du die Dose zurückgeben kannst. Wie ist es dazu gekommen, das du sie mitgenommen hast?» Kinder sollen von klein auf erfahren, dass sie ihren Eltern auch Unangenehmes erzählen können und sollen. Und dass Eltern Werte haben, das heisst, Vorstellungen darüber, was man tun darf und was nicht.

Lügen im Vorschulalter

Wenn Kinder ihren Eltern nicht die Wahrheit erzählen, sind diese meist enttäuscht und empfinden dies als Vertrauensbruch. Anna von Ditfurth beruhigt: «Wenn ein Kind zwischen vier und sechs Jahren seinen Eltern etwas vorflunkert, kann man noch nicht von Lügen, sondern muss eher von Schwindeln sprechen. Richtiges Lügen beginnt erst, wenn das Kind schulreif ist.» Im Vorschulalter erzählen Kinder oft Unwahrheiten, weil sie Gedächtnislücken haben, diese mit Wunschdenken phantasievoll ausschmücken, die zeitliche Reihenfolge von Geschehnissen durcheinanderbringen, den Wunsch nach Anerkennung oder Angst vor Strafe haben oder wie wir Erwachsene höflich sein wollen. Manchmal ist die Ausrede «Ich war es nicht» bequemer, als zur Wahrheit zu stehen.

Realität und Phantasie

Kinder entwickeln erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres Vorstellungsvermögen. Sie speichern jetzt alles Erlebte auf einer separaten «Festplatte» im Gehirn ab. Auf diese gespeicherten Informationen können sie dann im Spiel immer wieder zugreifen, und so wird ein Stein zum Beispiel zu einem Goldklumpen oder ein Holzklotz zu einer Glace. Solche «Als-ob-Spiele» sind wichtig für die Entwicklung des Vorstellungsvermögens. Erst mit etwa vier Jahren lernen Kinder allmählich, Realität und Phantasie zu unterscheiden. Jetzt können sie sich in ihr Gegenüber versetzen und lernen allgemeine Regeln kennen, was eine Voraussetzung fürs Schwindeln ist. Vierjährige Kinder schwindeln im Durchschnitt alle zwei Stunden, sechsjährige alle eineinhalb Stunden, so eine amerikanische Studie. Bis etwa zum sechsten Lebensjahr werden Kinder immer wieder Dinge erzählen, die nicht der Wahrheit entsprechen, wie zum Beispiel: «Heute durften wir in der Krippe mit den Händen essen.» Anna von Ditfurth sagt dazu: «In dieser Zeit experimentieren Kinder immer wieder mit ihrem Wunschdenken und der Realität. Eltern dürfen bei einem solchen Schwindel ruhig mal mitmachen, sofern auch das Kind weiss, dass es jetzt um eine ‹verkehrte Welt› geht. Die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr ist ein kognitiver Lernprozess, mit dem Kinder experimentieren können, wenn die Erwachsenen mitspielen.»

Tipps zum Lügen

  • Ertappen Sie Ihr Kind beim Lügen, bleiben Sie ruhig und drohen nicht mit Konsequenzen. Strafandrohungen führen nur dazu, dass es in Zukunft noch mehr Angst hat, die Wahrheit zu sagen, und vermehrt lügen wird.
  • Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass es keine Angst vor Ärger haben muss. Drücken Sie Verständnis dafür aus, dass es manchmal gar nicht leicht ist, Wunschdenken und Realität auseinanderzuhalten. Erklären Sie, dass jeder mal Dinge tut, die man nicht tun sollte. Bieten Ihrem Kind Hilfe an, damit es aus dieser Situation wieder herauskommt.
  • Vertreten Sie Ihre Werte in einfachen Worten, ohne Vorwurf und ohne Ihr Kind zu beschämen. Vermitteln Sie, dass Sie für Ihr Kind da sind, auch wenn es mal etwas ausgefressen hat. Erklären Sie ihm, dass es viel schlimmer ist, in solchen Situationen die Unwahrheit zu sagen, weil Sie sich dann nicht mehr aufeinander verlassen und vor allem ihm nicht helfen können.
  • Schenken Sie Ihrem Kind Vertrauen und geben Sie ihm das Gefühl, dass Sie es akzeptieren und verstehen, so wie es ist. Lassen Sie ihm ein paar Minuten Zeit, zu überlegen, wie es die Situation wieder in Ordnung bringen könnte.

Haben Sie gewusst,

dass Lügen ein Zeichen von Intelligenz ist? Kanadische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Lügen voraussetzt, dass ein Kind zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheiden kann und in der Lage ist, seinem Gegenüber die Unwahrheit überzeugend als Wahrheit zu verkaufen. Lügen setzt fortgeschrittene kognitive Fähigkeiten und soziale Fähigkeiten voraus.

Filed under: Erziehung

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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.