Das Leben ist voller Stolpersteine. Stefanie Rietzler erklärt, was Eltern beitragen können, um das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl bei Kindern zu stärken.
Was zeichnet starke Kinder aus?
Sie entwickeln ein gesundes Selbstvertrauen, ein gutes Selbstwertgefühl und lernen, mit Gefühlen und Problemen umzugehen. Die Forschung hat gezeigt, dass Kinder dafür von klein auf eine sichere und verlässliche Bindung zu ihren Bezugspersonen brauchen.
Wie können Eltern eine gute Bindung zu ihrem Kind fördern?
Ein Baby ist darauf angewiesen, dass Erwachsene auf seine Bedürfnisse eingehen und ihm helfen, seine Gefühle zu regulieren. Eltern fördern eine sichere Bindung, indem sie prompt auf die Signale des Kleinen reagieren, sich ihm zuwenden, sein Befinden und sein Bedürfnis in Worte fassen und feinfühlig darauf eingehen. Das Baby fühlt sich dadurch selbstwirksam und macht die Erfahrung, dass es sich auf andere verlassen kann, wenn es ihm nicht gut geht, dass es wertvoll ist und seine Eltern sich um es kümmern. Indem Eltern ihr Baby verlässlich durch das Weinen hindurchbegleiten und es trösten, legen sie den Grundstein dafür, dass sich das Kind später zunehmend selbst beruhigen kann.
Wie entwickelt ein Kind Selbstvertrauen?
Es muss sich an Herausforderungen wagen und die Erfahrung machen dürfen, dass es durch sein Zutun Erfolge erzielt und Beharrlichkeit sich lohnt. Es muss lernen, dass es durch Übung Fortschritte macht, zum Beispiel beim Hantieren mit einer Schere. Wenn es bei einem Puzzle frustriert ist, nicht mehr weiterweiss und die Eltern um Hilfe bittet, ist es sinnvoller, wenn sie sich zu ihm setzen und es ermutigen, es weiter zu probieren, statt das Puzzle für das Kind zu lösen. Sie können ihm zum Beispiel sagen: «Du bist schon ganz schön weit gekommen. Vielleicht hilft es dir, die Puzzleteile nach Farben zu sortieren? Willst du das mal ausprobieren?»
Was stärkt das Kind weiter?
Wenn es erlebt, dass andere Menschen sich ein Stück weit von ihm beeinflussen lassen und sich zum Beispiel für sein Spiel begeistern. Auch wichtig ist, dass es gewisse Entscheidungen altersangemessen selbst treffen darf. So soll es im Vorschulalter zum Beispiel entscheiden dürfen, ob es lieber den blauen oder den grünen Pulli anzieht. Um das Kind nicht zu überfordern, reichen zwei Auswahlmöglichkeiten. Ab der Primarschule soll es immer mehr eigenständig entscheiden dürfen.
Wie ticken Kinder mit viel Selbstvertrauen?
Kinder mit einem gesunden Selbstvertrauen haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich auf ihre Stärken verlassen und an Misserfolgen wachsen können. Sie lassen sich auf Herausforderungen ein und werfen nicht gleich das Handtuch. In den ersten Lebensjahren ist das für Kinder noch schwierig. Erst mit der Zeit lernen sie, dass sie etwas meistern können, wenn sie dranbleiben.
Können Eltern ihrem Kind Selbstvertrauen «einimpfen»?
In den USA sind viele Eltern überzeugt, dass ihr Kind Berge versetzen kann, wenn es an sich glaubt. Diese Vorstellung schwappt auch zu uns herüber. Manche Eltern loben ihr Kind in bester Absicht bei jeder Gelegenheit und geben ihm das Gefühl, dass es alles schaffen kann. Das halte ich für äusserst gefährlich, weil es Kinder enorm unter Druck setzt. Durch diese Haltung schliessen Erwachsene Scheitern aus. Das Kind fragt sich: Was ist, wenn ich nicht alles schaffe? Sind meine Eltern dann enttäuscht von mir? Bin ich an meinem Versagen schuld, weil ich nicht an mich geglaubt habe? Die Machbarkeitsillusion führt oft dazu, dass Eltern blind für die Schwächen des Kindes werden und es überfordern.
Welche Haltung empfehlen Sie als Alternative zu «Du schaffst es!»?
Eltern können ihr Kind stärken, indem sie ihm zu Beispiel sagen, dass sie ihm viel zutrauen, es etwas probieren darf und sie an seiner Seite sind, wenn es Hilfe braucht. Sie sollten ihm also signalisieren, dass sie sich für es freuen, wenn etwas klappt, aber auch für es da sind, wenn es nicht klappt. So lernt das Kind, dass es scheitern darf.
Wirkt Lob stärkend?
Das wird kontrovers diskutiert. Ich denke, dass Kinder von klein auf Zuspruch suchen, stolz auf ihre ersten Kunstwerke sind und wollen, dass sich die Eltern mit ihnen freuen. Ich halte es aber nicht für sinnvoll, das Kind für jeden Klecks zu loben. Viel wichtiger ist, dass das Kind unser authentisches Interesse spürt. Oft reicht ein Lächeln, ein Nicken, eine Berührung. Statt ein Bild zu bewerten, kann man die Details gemeinsam bestaunen. Eltern müssen nicht gänzlich auf Lob verzichten, aber darauf achten, wofür sie loben. Es ist besser, wenn sie betonen, dass ihr Kind sich Mühe gegeben hat, statt auf das Endergebnis zu setzen! Wenn Eltern überschwänglich loben, neigen Kinder eher zu Selbstverliebtheit, entwickeln aber ein geringes Selbstwertgefühl.
Weshalb brauchen Kinder ein gutes Selbstwertgefühl?
Es ist hilfreich, wenn Kinder ihre Stärken und Schwächen kennenlernen, sie annehmen und liebevoll mit sich selbst umgehen können. Ein gesundes Selbstwertgefühl ist wichtig für ein zufriedenes Leben und schützt ein Stück weit vor psychischen Erkrankungen. Es hilft uns, Fehler anzunehmen und bei Rückschlägen nicht gleich unsere ganze Person in Frage zu stellen. Wer sich als wertvoll empfindet, kann offener auf andere zugehen. Menschen, die sich wertlos fühlen, ziehen sich eher zurück und erleben kaum, wie stärkend Beziehungen sind.
Wie können Eltern das Selbstwertgefühl bei Kindern stärken?
Indem sie sich regelmässig Zeit nehmen, um mit ihrem Kind etwas zu unternehmen, zu spielen, sich für seine Welt zu interessieren, zu plaudern. So erlebt das Kind, dass es für seine Eltern wichtig ist. Die Eltern dürfen ihm ruhig sagen, was sie an ihm schätzen. Kinder, die das Gefühl bekommen, für ihre Familie und ihre Freunde eine Bereicherung zu sein, entwickeln ein gutes Selbstwertgefühl. Dazu trägt auch bei, wenn ein Kleinkind im Haushalt helfen darf oder wenn wir ihm danken, wenn es sein weinendes Geschwister tröstet.
Schlecht für das Selbstwertgefühl wäre, wenn das Kind sich als Belastung für die Eltern empfindet. Dieser Eindruck entsteht schnell durch unbedachte Aussagen wie «Ich mache so viel für dich und du bist nicht dankbar» oder «Wegen dir muss ich auf so vieles verzichten».
Wie können wir ein Kind ermahnen, ohne sein Selbstwertgefühl zu schmälern?
Schlägt beispielsweise das ältere Geschwister das jüngere, können die Eltern klar zum Ausdruck bringen, dass sie dieses Verhalten nicht tolerieren. Statt zu sagen: «Warum bist du immer so böse?», können sie zu einer Ich-Botschaft greifen, die nicht die Persönlichkeit des Kindes, sondern sein Verhalten kritisiert. Das klappt zum Beispiel mit: «Ich möchte nicht, dass du deine Schwester haust. Sag stopp, wenn du etwas nicht willst.»
Viele Eltern vergleichen ihre Kinder und versuchen, «schwächeren» Kindern mit Aussagen wie «Aber du kannst dafür besser …» Mut zu machen. Was halten Sie davon?
Das ist gut gemeint. Leider stärken Aussagen wie «Anna ist gut im Sport, aber du kannst dafür gut malen» das Selbstvertrauen des schwächeren Kindes nicht. Ganz im Gegenteil, sie verstärken die Konkurrenz zwischen den Geschwistern. Durch solche Aussagen schreiben die Eltern ihrem Kind gewisse Bereiche zu, auf die es sich zurückzieht – mit dem Resultat, dass es sich auf Bereiche, in denen es schwächer ist, nicht mehr einlassen will. Vergleichende Aussagen führen meist dazu, dass Kinder eine Bilanz ziehen, was deprimierend sein kann. Es spricht nichts dagegen, dass Eltern Stärken zurückmelden – von Vergleichen rate ich aber ab. Am besten nehmen Eltern jedes Kind als eigenständige Persönlichkeit wahr.
Was möchten Sie Eltern, die sich ein starkes Kind wünschen, mit auf den Weg geben?
Grundsätzlich lassen sich Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl nicht in einem Programm erlernen. Das Ganze ist ein Mosaik, das durch viele kleine Steinchen im Alltag entsteht. Nicht jede negative Erfahrung wirkt sich negativ auf das Kind aus. Im Gegenteil, es wächst an den Hindernissen im Leben, wird dadurch krisenfest und widerstandsfähig. Wichtig ist aber, dass es spürt, dass es geliebt wird und jemand da ist, der Strukturen bietet und Sicherheit gibt. Eltern können für gute Grundvoraussetzungen sorgen, es gibt aber viele Faktoren, die sie weder beeinflussen noch kontrollieren können. Dieses Wissen kann für Eltern entlastend sein.
Info zum Loben
Eine Studie hat gezeigt, dass Eltern Mädchen und Jungen ähnlich oft loben. Mädchen werden allerdings eher für ihre Eigenschaften wie etwa ihre Intelligenz gelobt, Buben eher für ihre Bemühungen oder ihre Strategie. Ersteres führt dazu, dass Kleinkinder eher mogeln, weil sie das positive Bild aufrechterhalten wollen. In der Schule sind sie weniger bereit, Herausforderungen anzupacken, und wählen lieber einfachere Aufgaben.
Buchtipp
Geborgen, mutig, frei. Wie Kinder zu innerer Stärke finden. Fabian Grolimund, Stefanie Rietzler, Herder Verlag, 2019.
So ermutigen Sie Ihr Kind
- Motivieren Sie Ihr Kind nicht ständig mit «Du schaffst das!».
- Sagen Sie ihm, dass Sie ihm viel zutrauen, es etwas probieren darf und Sie an seiner Seite sind, wenn es Hilfe braucht.
- Signalisieren Sie ihm, dass Sie sich für es freuen, wenn etwas klappt, aber auch für es da sind, wenn es nicht klappt. So lernt es, dass es scheitern darf.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.