Laut Bundesamt für Statistik kommen heute 44 Prozent der Kinder zu Hause mit mehreren Sprachen in Kontakt. Doch was müssen Eltern wissen, wenn sie ihr Kind zweisprachig erziehen wollen?
Mehrsprachigkeit ist weltweit gegenwärtig eher die Regel als die Ausnahme. Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, haben Vorteile. Sie lernen verschiedene Sprachen sehr früh auf natürliche Weise im Alltag, ohne dafür Vokabeln büffeln zu müssen. Franziska Vogt, Leiterin des Zentrums Frühe Bildung an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, weiss: «Sprachen eröffnen Kindern auch Zugang zu anderen Kulturen.» Für zweisprachige Kinder ist es vermutlich schon früh selbstverständlich, dass es mehrere Sprachen gibt, was hilfreich ist, wenn sie später in der Schule weitere Sprachen lernen werden. Frühe Mehrsprachigkeit führt aber nicht zu Vorteilen in anderen Bildungsbereichen, zum Beispiel in der Mathematik.
Zweisprachig Aufwachsen überfordert ein Kind nicht
Das menschliche Gehirn kann problemlos mehr als eine Sprache verarbeiten. Ein Kind ist von Geburt an in der Lage, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen. Selbst Kinder mit einer Beeinträchtigung können mehrsprachig werden. Dass mehrere Sprachen in der Familie das Kind überfordern, ist ein Mythos.
Zweisprachige Erziehung und Herzenssprache
Franziska Vogt empfiehlt Eltern, mit ihrem Kind in der Sprache zu sprechen, die sie am besten beherrschen und in der sie am ehesten ihre Gefühle ausdrücken können. Die Expertin nennt dies die Herzenssprache. Sie findet es schade, wenn Eltern im Kontakt mit ihrem Baby nicht die Herzenssprache wählen und eine andere Sprache verwenden, nur weil sie sich davon Vorteile für das Kind erhoffen, wie zum Beispiel einen leichteren Schulstart. Es gebe jedoch Menschen, die mehr als eine Herzenssprache sprechen, so die Fachfrau. «Letztlich müssen die Eltern spüren, welche Sprache sich bei der Kommunikation mit ihrem Kind richtig anfühlt», sagt Franziska Vogt. Im Laufe der Kindheit könne es bei den Sprachen, die in der Familie gesprochen werden, auch zu einem Wechsel kommen.
Ideale Voraussetzungen für Mehrsprachigkeit
Die Eltern können ideale Bedingungen für den Erwerb einer oder mehrerer Sprachen schaffen. Förderlich sind ausführliche Dialoge, bei denen die Eltern und Bezugspersonen auf das Kind eingehen. Wichtig ist, dass die Erwachsenen nicht nur selbst sprechen, sondern dem Kind zuhören, auf seine Signale reagieren, zum Beispiel wenn es etwas anschaut oder auf etwas zeigt, und seine Gefühle auch anhand des Gesichtsausdrucks wahrnehmen. Sinnvoll ist zudem das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern in den jeweiligen Sprachen. Oft liefern Bücher neuen Gesprächsstoff. Die Sprachentwicklung eines Kindes hängt auch von der Qualität und der Quantität der Anregungen und Interaktionen ab. Für den Start in Kindergarten und Schule ist es sehr hilfreich, wenn die Kinder schon vorher neben der Familiensprache auch die Umgebungssprache lernen. Eltern schaffen für ihr Kind ideale Voraussetzungen, wenn es in eine Kita oder eine Spielgruppe gehen kann, wo es ganz natürlich und spielerisch auch die Umgebungssprache lernt.
Realistische Erwartungen
Eltern sollten nicht erwarten, dass ihr Kind in Bezug auf den Wortschatz in mehreren Sprachen das gleiche Niveau erlangt. Laut Franziska Vogt ist dieser in den verschiedenen Sprachen häufig unterschiedlich, weil die Sprachen in verschiedenen Kontexten und nicht gleich häufig verwendet werden. Es sei auch ganz normal, dass mehrsprachige Kinder Sprachen mischen. Das gehöre zum mehrsprachigen Familienalltag. Das Vermischen der Sprachen nimmt jedoch mit der Zeit meist ab.
Umgang mit Fehlern bei Zweisprachigkeit
Fehler gehören zum Lernen. Die Expertin empfiehlt Eltern, das Kind nicht auf Fehler anzusprechen, die es in einer Sprache macht. Sie erklärt: «Besser ist es, indirekt zu reagieren. Wenn ein Kind etwas nicht richtig formuliert, können die Eltern ihm zeigen, dass sie es verstehen, und die Aussage in ihrem Kommentar korrekt wiedergeben.» Sagt ein Kind zum Beispiel: «Da Löwe fresst», können die Eltern sagen: «Genau, der Löwe frisst ein Tier. Ich vermute, dass es eine Gazelle ist.» Nicht sinnvoll sind Sätze wie «Sag es mal richtig!» oder «Wiederhole den Satz nun nochmals korrekt!». Fehler sollen das Gespräch nicht unterbrechen.
Wenn das Kind eine Sprache nicht sprechen will
Dass ein Kind die Sprache eines Elternteils nicht spricht, kommt recht häufig vor. Oft versteht es diese Sprache dennoch. In diesem Fall empfiehlt Franziska Vogt, dass der Vater oder die Mutter im Gespräch mit dem Kind weiterhin die eigene Sprache verwendet, auch wenn es in der Schulsprache oder in der Sprache des anderen Elternteils antwortet. Sie sagt: «Wenn alle in der Familie alle Sprachen verstehen, besteht kein Problem. Ein lockerer Umgang, Verständnis und eine gute Beziehung sind wichtiger als die Kompetenz des Kindes in den verschiedenen Sprachen.»
Zweisprachige Kita
Manche Eltern entscheiden sich für eine zweisprachige Kindertagesstätte, weil sie hoffen, dass ihr Kind dadurch schon im Vorschulalter fliessend Englisch sprechen wird. Doch wie realistisch ist das? Ob ein Kind zum Beispiel Englisch lernt, hängt vor allem davon ab, wie oft und in welcher Qualität die von der Kita angebotene Sprache gesprochen wird. In vielen zweisprachigen Einrichtungen wird die Umgebungssprache nämlich doch häufiger benutzt. Vom klassischen Fremdsprachenunterricht im Vorschulalter rät Franziska Vogt ab, weil Kinder die Welt in diesem Alter spielerisch entdecken wollen und das Lernen in Lektionen nicht ihren Bedürfnissen entspricht.
Unterricht in Herkunftssprachen
In manchen Kantonen wird Kindern ab dem Kindergarteneintritt Unterricht in ihrer Herkunftssprache angeboten. Das erachtet Franziska Vogt als sinnvoll, weil dies auch den Zugang zur Kultur im Herkunftsland der Eltern fördert. Sie betont allerdings: «Das Lernen sollte in diesem Alter jedoch spielerisch erfolgen.» Ideal seien «So tun als ob»-Spiele und Rollenspiele in der Herkunftssprache. Kinder können zum Beispiel einen Restaurantbesuch nachstellen oder sich gemeinsam auf eine Schatzsuche begeben. In solchen Kursen werden oft auch Bilderbücher in der Herkunftssprache eingesetzt.
Umgebungssprache lernen
Wenn ein Kind mit fremdsprachigen Eltern die Umgebungssprache schon beherrscht, bevor es in den Kindergarten kommt, hat es grosse Vorteile. Ideal ist, wenn Eltern mit Migrationshintergrund ihrem Kind vor dem Eintritt in den Kindergarten intensiven Kontakt mit der Umgebungssprache ermöglichen, zum Beispiel indem sie es eine Kita oder eine Spielgruppe besuchen lassen. Nicht empfehlenswert ist hingegen, dass die Eltern versuchen, mit ihrem Kind in der Umgebungssprache zu reden, obwohl sie selbst diese nur gebrochen sprechen. Erhalten Kinder nicht die Gelegenheit, die Sprache der Eltern zu lernen, werden sie nicht nur einer Sprache, sondern auch einer Kultur beraubt. Sie werden nicht in der Lage sein, mit ihren Verwandten im Herkunftsland zu sprechen.
Zweisprachig aufwachsen: Probleme?
Manche Eltern fragen sich, ob das Kind Nachteile haben könnte, wenn sie es zwei- oder mehrsprachig erziehen. Mehrsprachigkeit beeinträchtigt die Sprachentwicklung nicht. Sprachentwicklungsstörungen treten bei ein- und bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern gleich häufig auf.
So erziehen Sie Ihr Kind zweisprachig
- Sprechen Sie mit Ihrem Kind konsequent in Ihrer Sprache.
- Geben Sie nicht auf, wenn es Ihre Sprache nicht spricht. Bleiben Sie bei Ihrer Sprache und freuen Sie sich, wenn das Kind sie versteht.
- Je mehr Sie mit ihm kommunizieren, desto grösser ist die Chance, dass es Ihre Sprache lernt.
- Reden Sie beim Vorlesen eines Buches immer wieder in Ihrer Sprache mit ihm.
- Für Ihr Kind ist es wichtig, zu erleben, dass Ihre Sprache auch von vielen anderen Menschen gesprochen wird. Pflegen Sie Kontakt zu Familien, die Ihre Sprache sprechen, und verbringen Sie die Ferien in Ihrem Heimatland.
- Unterstützen Sie Ihr Kind, wenn ihm in Ihrer Sprache ein Wort fehlt.
- Zeigen Sie Wertschätzung gegenüber allen Sprachen, mit denen Ihr Kind konfrontiert wird.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.