Die Ankunft eines neuen Babys ist für die Eltern und Geschwister aufregend. Die Psychologin Stefanie Rietzler erklärt, was Eltern am besten beachten, damit der Familienzuwachs für alle zu einer positiven Erfahrung wird.
Wann sollen Eltern ihrem Kind mitteilen, dass es ein Geschwisterchen bekommt?
Aus fachlicher Sicht gibt es hier keine Empfehlungen. Die meisten Eltern merken instinktiv, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Dabei sollte man bedenken, dass jüngere Kinder die Neuigkeit kaum für sich behalten können. Die meisten Eltern informieren das Kleinkind nach dem ersten Ultraschall, wenn das Herzchen bereits schlägt und alles in Ordnung ist.
Leidet die Mutter unter merklichen Schwangerschaftsbeschwerden, kommen die Eltern in Erklärungsnot. In diesem Fall kann man dem Kind erklären, dass der Körper der Mama gerade viel Kraft braucht, weil er ein Baby wachsen lässt – und er deswegen gerade öfter ruhen muss. Auf keinen Fall sollte man dem Kind den Eindruck vermitteln, dass das Baby die Mama «krank macht».
Wie erklärt man einem Kleinkind, dass es ein Geschwisterchen bekommt?
Es ist wertvoll, wenn die Eltern ihrem Kind erklären, dass sie als Familie Nachwuchs bekommen, auf den sie sich alle zusammen freuen dürfen. Nicht ideal sind Aussagen wie «Mama und Papa kriegen ein neues Baby», weil dem Kind dadurch nahegelegt wird, dass das Geschwisterchen seinen Platz einnimmt. Man möchte ja auf keinen Fall negative Erwartungen beim Älteren schüren, dass sich bald alles negativ verändern und ihm etwas weggenommen wird! Vielmehr wollen wir die Ankunft des Geschwisters als etwas Positives darstellen, indem wir Freude und Neugier wecken, anstatt ihm zu erklären, dass Mama bald weniger Zeit für es haben wird. Das ältere Kind darf nicht den Eindruck erhalten, dass es bald nur noch zweite Geige spielen wird.
Wie können die Eltern ihr Kind an der Schwangerschaft teilhaben lassen?
Indem man das Ungeborene von Anfang an als eigenständige Person darstellt und zum Beispiel sagt: «Jetzt strampelt deine Schwester gerade. Magst du mal fühlen?». Wenn das ältere Geschwister mithilft, den Bauch der Mama einzucremen, kann man eine Verbindung herstellen: «Ich glaube, unser Kleines geniesst es, wenn du es so sanft streichelst.» Für die Geschwisterkinder ist es auch oft faszinierend, wenn sie zu einem Ultraschall mitgehen dürfen.
Viele Geschwister finden es jetzt sehr spannend, wenn die Eltern mit ihnen mittels Fotos, Videos und Erzählungen in die Zeit zurückblicken, in der sie in Mamas Bauch oder noch ein kleines Baby waren. Sie merken dann, dass es bei ihnen ähnlich war. Das schafft Vertrauen und Sicherheit.
Was empfehlen Sie zur Vorbereitung auf die Geburt?
Ich rate Eltern, bei Ritualen darauf zu achten, dass diese sich nicht plötzlich um den Geburtszeitpunkt ändern. Bringt die Mama das Kind jeweils ins Bett, sollten sich die Eltern schon mehrere Wochen vor der Geburt abwechseln und nicht erst dann der zweite Elternteil die Lücke füllen, wenn die Mama im Geburtshaus oder im Spital ist. Denn dann wird es vom älteren Kind schnell sehr wohl als Verlust erlebt, den es dem Baby zuschreibt. Schön ist auch, wenn das Kind weitere Bezugspersonen hat, die es während der Geburt des Geschwisterchens betreuen. Idealerweise reisen diese schon ein bisschen früher an.
Hat das Kind die begleitende Ärztin oder Hebamme kennengelernt, können Eltern ihrem Kind zum Beispiel erklären: «Frau X hilft unserem Baby auf die Welt.» Es soll wissen, dass es das Baby bald kennenlernen darf und sich das Kleine sicher schon darauf freut.
Warum löst die Ankunft eines Geschwisterchens bei vielen Kindern auch Unsicherheit aus?
Ein Baby stellt die Welt der Familie auf den Kopf. Selbst wenn ältere Geschwister mental vorbereitet sind, brauchen sie Zeit, die Ankunft des Babys gefühlsmässig zu verarbeiten. Die Situation ist ähnlich, wie wenn einem der Partner oder die Partnerin erklären würde, dass er oder sie nun eine neue Freundin oder einen neuen Freund hätte, die oder der nun mit ihnen das Bett teilt, aber dies die Liebe zwischen den Eltern nicht tangieren würde.
Das ältere Kind beobachtet, dass das Baby viel Zuwendung und Aufmerksamkeit braucht. Der Säugling wird getragen, gefüttert und gewickelt. Das ältere Kind muss plötzlich öfter Rücksicht nehmen und warten. Die Erwartungen an es steigen.
Es ist deshalb normal, dass diverse Gefühle nebeneinanderstehen können, wie Freude, Begeisterung, Neugier, Stolz, aber auch Angst, Traurigkeit, Frust und Eifersucht. Gut zu wissen ist, dass der Anfang nichts darüber aussagt, wie die Geschwisterbeziehung mal wird.
Ist es sinnvoll, dem Kind ein Geschenk im Namen des Babys zur Geburt zu geben?
Dagegen spricht nichts. Ein kleines Geschenk kann einen ersten Kontakt positiv beeinflussen. Die Eltern können das mit den Worten kommentieren «Schau, dass hat dir dein Brüderchen mitgebracht, weil er sich auf dich gefreut hat.» Schön kann es sein, wenn das Geschenk einen Bezug zum Baby hat, zum Beispiel eine Puppe, so dass das ältere Kind und die Mama simultan wickeln können.
Warum sind manche Kleinkinder grob zum Neugeborenen?
Bei Kleinkindern ist die Selbstwahrnehmung noch nicht so ausgeprägt. Zudem sind sie impulsiv und lernen erst nach und nach, die Perspektive ihres Gegenübers einzunehmen. Das macht es Ihnen zum Beispiel schwerer einzuschätzen, wie viel Kraft sie beim Streicheln anwenden dürfen. Oder wenn ihnen das Neugeborene aufgrund des Greifreflexes Haare ausreisst, verstehen sie das nicht und setzen sich zur Wehr. Wir können also nicht erwarten, dass das ältere Geschwister immer feinfühlig mit dem Baby umgeht.
Aber: Ältere Geschwister wollen kompetent mit dem Baby umgehen. Dazu brauchen sie unsere Anleitung. Viele Eltern sprechen Verbote aus wie zum Beispiel «Du kannst das Baby noch nicht hochheben!» Besser ist, das Kind anzuleiten, wie es das Baby halten kann, zum Beispiel indem es sich auf das Sofa setzt und das Baby mithilfe eines Stillkissens stützt. Es hilft auch, wenn Eltern am Anfang die Aufgabe eines Dolmetschers für die Signale des Babys übernehmen. So lernt das ältere Kind, diese bald zu verstehen.
Was beugt Eifersucht vor?
Gewohnte Rituale geben dem älteren Geschwister Sicherheit. Schön ist, wenn nicht ausschliesslich die Mama sich ums Baby kümmert, so dass sie ihrem älteren Kind zum Beispiel abends weiterhin eine Geschichte vorlesen kann. Das ältere Kind braucht in dieser aufregenden Zeit viel Verständnis, Nähe und Körperkontakt. Ausserdem empfehle ich, das ältere Kind von Anfang an beim Wickeln, Anziehen oder Zubereiten des Fläschchens einzubeziehen und immer wieder zu betonen, wie wichtig es für das Neugeborene ist und wie lieb dieses sein älteres Geschwister hat.
Manche älteren Geschwister wollen jetzt plötzlich wieder klein sein. Das ist in der Anpassungszeit ganz normal. Ich empfehle, dies einfach zuzulassen. Wenn ein Kind wieder ein Fläschchen oder im Kinderwagen sitzen will, ist das in Ordnung. Abzuraten ist von abwertenden Aussagen wie «Du bist doch kein Baby mehr!». Eifersucht kommt oft auch beim Stillen auf, wenn sich das ältere Kind wie das fünfte Rad am Wagen fühlt. Manche Kinder mögen es, die Mama mit ein paar bereitgestellten Snacks zu füttern oder mit ihr ein Buch zu lesen, während sie das Baby stillt. Es ist auch wichtig, all die starken und oft widersprüchlichen Gefühle, die mit der Umstellung verbunden sind, zuzulassen und dem älteren Kind zuzutrauen, dass es unter Anleitung in seine neue Rolle hineinwächst.
Expertin: Stefanie Rietzler, Psychologin mit Weiterbildung in bindungsbasierter Beratung und Therapie, Co-Leiterin der Akademie für Lerncoaching in Zürich, www.mit-kindern-lernen.ch
«Juhu, ich bekomme ein Geschwisterchen!» von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund, Hogrefe, 2024.Im liebevoll illustrierten Bilderbuch geht es darum, dass die kleine Ente Merle acht Geschwister bekommt. Im trubeligen Familienalltag entdeckt sie, wie schön es ist, achtsam mit den Kleinen zu kuscheln, Mama und Papa beim Wickeln und Füttern zu helfen, ihre Geschwister zum Lachen zu bringen und gut auf sie aufzupassen. Und zum Glück ist in Mamas und Papas Herz und auf ihrem Schoss genug Platz für sie alle!
Ein ergänzender Teil für die Eltern beschreibt, wie wir von Anfang an zu einer schönen und starken Geschwisterbeziehung beitragen und mit herausfordernden Aspekten dieser Übergangsphase wie Eifersucht, Verlustängsten und Anklammern umgehen können.
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Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.