Streit und Rivalität zwischen Geschwistern gehören in den meisten Familien zum Alltag, was Eltern manchmal verzweifeln lässt.
Wenn sich Paare für mehrere Kinder entscheiden, wünschen sich die meisten, dass sich der Nachwuchs von Natur aus gut versteht. Umso grösser ist der Frust, wenn sich die Geschwister täglich zanken. Doch was steckt hinter dieser Rivalität? Markus Zimmermann, Erziehungsberater aus Affoltern am Albis, erklärt: «Bei Eifersucht zwischen Geschwistern geht es um Zuwendung und Anerkennung der Eltern.» Kinder verstehen jedoch nicht, dass sie durch Streitereien meist nur negative Aufmerksamkeit erhalten, nämlich dass Mami oder Papi mit ihnen schimpfen.
Geschwister sind verschieden
Obwohl Geschwister genetische Gemeinsamkeiten haben, staunen viele Eltern darüber, wie unterschiedlich ihre Kinder sind. Die Persönlichkeit eines Kindes wird nicht nur durch die Gene geprägt, sondern vor allem dadurch, wie die Eltern auf es zugehen. Die Geschwisterreihenfolge hat ebenfalls einen starken Einfluss. Jede Position in der Reihenfolge hat ihre Vor- und Nachteile. Eltern sollen sich dafür nicht verantwortlich fühlen, sondern ihren Kindern zumuten, dass sie damit umgehen können. Laut Markus Zimmermann bestimmen alle diese Faktoren mit, welche Rolle ein Kind in der Familie übernimmt. Häufig sind Erstgeborene eher introvertiert, beobachten gerne und schlüpfen manchmal in die Erzieherrolle, um damit bei den Eltern zu punkten. Andere Geschwister spielen den Clown, sind Vermittler, Sonnenschein, Familiengenie, Nesthäkchen oder der Sündenbock in der Familie. Rollen können einschränkend wirken und zum Problem werden, zum Beispiel wenn das älteste Kind immer Vorbild für das jüngere sein soll. Eltern können die Rollen ihrer Kinder verstärken oder abschwächen.
Meist wollen Geschwister eigenständig sein und finden es gar nicht toll, wenn sie zum Beispiel die gleiche Kleidung tragen müssen oder immer miteinander verglichen werden. Die Rivalität zwischen Geschwistern hängt auch vom Geschlecht der Kinder und vom Altersunterschied ab. Beträgt Letzterer 1,5 bis 3,5 Jahre, streiten Kinder statistisch gesehen besonders häufig.
Hohe Erwartungen an Erstgeborene
Beim ersten Kind sind die meisten Eltern noch unsicher. In der Kleinfamilie fehlen ihnen Vorbilder. Der Wunsch, alles richtig zu machen, führt nicht selten zu Stress und Überforderung. Sie fokussieren sich voll und ganz auf ihr Kind, halten jeden Entwicklungsschritt fotografisch fest und schauen abends immer wieder nach, ob ihr Baby schläft. Oft haben sie ein Leben lang sehr grosse Erwartungen an ihr Erstgeborenes. Das Einzelkind auf Zeit steht im Mittelpunkt, insbesondere wenn es das erste Baby in der Verwandtschaft ist. Kommt ein zweites Kind zur Welt, ändert sich seine Situation radikal. Es wird vom jüngeren Geschwister vom Thron gestossen.
Eifersucht des Kindes ernst nehmen
Für Erstgeborene kann die Geburt eines Geschwisters sehr schwierig sein. Um die Gefühle des Erstgeborenen besser zu verstehen, konstruiert Markus Zimmermann ein eindrucksvolles Beispiel: «Stellen Sie sich vor, Ihr Mann, der Sie über alles liebt, kommt eines Tages mit einer neuen Frau nach Hause, die er genauso liebt und die fortan unter einem Dach mit Ihnen wohnen wird. Alle Freunde und Verwandte schenken nun vor allem der neuen Frau viel Aufmerksamkeit. Von Ihnen wird erwartet, dass Sie die neue Frau sofort ins Herz schliessen.» Ursache für die Eifersucht von Erstgeborenen ist die Verlustangst. In der Regel interpretieren Kinder Situationen, zum Beispiel wenn die Mutter das Baby in den Armen in den Schlaf wiegt, zu ihren Ungunsten. Sie registrieren vieles, was wir nicht realisieren.
Manchmal führt Eifersucht dazu, dass Kinder gemein werden, was die Eltern erschreckt. Oft reagieren sie auf die Gemeinheiten barsch. Aus Erfahrung weiss Markus Zimmermann, dass Sprüche wie «Jetzt tu doch nicht so blöd. Ich habe euch alle gleich gern» keinen Erfolg versprechen. Im Gegenteil, das eifersüchtige Kind sieht sich durch die heftige Reaktion der Eltern in der Annahme bestätigt, dass Mami oder Papi es weniger gernhaben. Der Fachmann rät Eltern, auf Eifersucht mit viel Verständnis zu reagieren und sich in die Perspektive des Kindes zu versetzen. Das betroffene Kind braucht Hilfe. Es fühlt sich angenommen und verstanden, wenn die Eltern ihm zum Beispiel sagen: «Du musst gute Gründe für deine Wut haben» oder «Es ist nicht immer leicht, ein Geschwister zu haben». Auch wenn Eifersucht für die Eltern schwer auszuhalten ist, sollten sie nicht den Fehler bei sich suchen oder sich schuldig fühlen. Besser ist es, wenn sie versuchen, die Gefühle des älteren Kindes zu verstehen.
Verständnis brauchen auch Kinder in Patchworkfamilien. Der Vater oder die Mutter darf nicht erwarten, dass das Kind die neue Partnerin oder den neuen Partner sofort akzeptiert und in sein Herz schliesst. Die neue Familienkonstellation löst bei den meisten Kindern Verunsicherung aus.
Vergleichen ist tabu
Bei der Geburt des zweiten Kindes sind die meisten Eltern gelassener, weil sie bereits in ihre Rolle hineingewachsen sind. Tendenziell haben sie an das zweite Kind weniger hohe Erwartungen. «Viele Eltern machen nun aber den grossen Fehler, ihre Kinder miteinander zu vergleichen. Das ist Gift für die Geschwisterbeziehung», weiss Markus Zimmermann. Auch wenn es natürlich sei, Kinder miteinander zu vergleichen, sollten Eltern sich ihnen gegenüber nie über ihre Beobachtungen äussern.
Streit zwischen Geschwistern
Fast alle Geschwister streiten – das ist normal. Bei diesen Gelegenheiten lernen Kinder soziales Verhalten in einem geschützten Umfeld. Sie können ausprobieren, wie weit sie gehen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihre Schwester oder ihren Bruder zu verlieren. Für Eltern sind die Streitereien nervenaufreibend. Viele greifen deshalb sehr schnell ein, versuchen den Schuldigen zu finden und werden laut. Markus Zimmermann empfiehlt Eltern, bei Konflikten zwischen ihren Kindern nicht sofort zu handeln, sondern die Verantwortung für die Situation den Kindern zu überlassen und ihnen zuzutrauen, dass sie ihren Streit selbst beilegen können. Damit meint der Fachmann nicht, dass die Eltern den Zwist ignorieren sollen. Besser sei es, ihn aus Distanz zu beobachten. Gelingt es den Kindern nicht, den Streit zu beenden, können die Eltern die Moderatorenrolle übernehmen und die Streithähne beispielsweise fragen: «Könnt ihr selber fertig streiten, oder braucht ihr meine Hilfe?» oder «Was hilft euch, euren Streit zu beenden?» Von Schuldzuweisungen rät der Experte ab – das wäre kontraproduktiv. Oft streiten Kinder ja, weil sie sehen wollen, auf welche Seite sich die Mutter oder der Vater stellt. Sofort eingreifen sollten die Eltern nur, wenn Gewalt im Spiel ist und Verletzungsgefahr besteht. Oft hilft es, die Kinder in ihre Zimmer zu schicken, bis sie sich beruhigt haben. Wenn es um die Lösung von Konflikten geht, wirkt sich der Umgang der Eltern damit auf die Kinder aus. Erwachsene, die bei jedem Streit vor Wut kochen, dürfen sich nicht wundern, wenn ihre Kinder dieses Verhalten übernehmen. Konfliktmanagement wird nicht anerzogen, sondern vorgelebt.
Gut zu wissen
In Gegenwart der Familie streiten die meisten Geschwister sich hin und wieder. Beruhigend ist aber, dass die grosse Mehrheit der Geschwister ausserhalb der Familie, zum Beispiel auf dem Pausenhof, zusammenhält oder dass sie einander schützen, wenn Gefahr droht. Meist nimmt die Rivalität zwischen Geschwistern in der Pubertät ab. Viele entwickeln dann sogar ein sehr enges Verhältnis zueinander.
Tipps bei Eifersucht zwischen Geschwistern
- Akzeptieren Sie die nach der Geburt eines Geschwisters aufkommenden Gefühle des Erstgeborenen.
- Schenken Sie ihm jetzt besonders viel Aufmerksamkeit und Zuneigung.
- Beziehen Sie es in die Babypflege ein.
- Nehmen Sie sich bewusst Zeit für das ältere Kind.
- Unternehmen Sie öfter etwas nur mit dem Erstgeborenen.
- Vergleichen Sie Ihre Kinder nie miteinander.
Unser Erstgeborenes möchte seit der Geburt unseres jüngeren Kindes wieder ein Baby sein. Wie reagieren wir darauf?
Dieses Verhalten ist ganz normal. Anstatt zu argumentieren, dass es doch jetzt schon gross sei, nehmen Sie seinen Wunsch auf. Geben Sie ihm den Schoppen oder ziehen Sie es am Morgen an, wenn es dies will. Sie können es aber auch fragen, ob es denn auch wieder eine Windel anlegen will und zur gleichen Zeit ins Bett will wie das Baby. Die meisten älteren Kinder wollen dann plötzlich wieder gross sein …
So reagieren Sie, wenn Ihre Kinder sich streiten
- Bleiben Sie ruhig oder ziehen sich kurz zurück, um sich zu beruhigen.
- Beobachten Sie die Situation, ohne sofort einzugreifen.
- Trauen Sie den Kindern zu, dass sie den Streit selber beilegen können.
- Ist dies nicht der Fall, fragen Sie sie, ob sie Hilfe brauchen.
- Fragen Sie nicht, was geschehen ist oder wer angefangen hat, sondern was die Kinder brauchen, um wieder friedlich miteinander umgehen zu können.
- Greifen Sie nur ein, wenn Verletzungsgefahr besteht oder wenn immer dasselbe Kind unter die Räder kommt.
- Sorgen Sie für Distanz zwischen den Streithähnen, wenn sie sich nicht beruhigen können.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.