Will das Kind nicht essen, verzweifeln manche Eltern fast.
In den ersten 12 bis 18 Lebensmonaten sind die meisten Kinder offen für neue Geschmäcker. Ab etwa dem zweiten Geburtstag werden viele wählerisch und lehnen unbekannte Lebensmittel oft ab. Die Abneigung gegenüber neuen Lebensmitteln – auch Neophobie genannt – war in der Evolution des Menschen sinnvoll. Stéphanie Bieler von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE sagt dazu: «Die Neophobie hat unsere Vorfahren davor geschützt, giftige Pflanzen zu essen.» Sie ist Teil der kindlichen Entwicklung und geht meist mit dem Eintritt in den Kindergarten vorbei. Vor allem der Einfluss von gleichaltrigen Kindern führt dazu, dass das Spektrum an Lebensmitteln, die das Kind mag, dann in der Regel wieder breiter wird.
Mehr Kinder verweigern Essen
Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Monika Strauss, die am Universitäts-Kinderspital Zürich Kinder mit Essstörungen betreut, beobachtet, dass es heute immer mehr Kinder gibt, die nur noch eine beschränkte Auswahl an Lebensmitteln mögen: «Der Grund dafür ist die Tatsache, dass viele Kinder nicht mehr in Gesellschaft von anderen Kindern und Erwachsenen, sondern allein mit ihrer Mutter essen.» Stéphanie Bieler vermutet zudem, dass manche Eltern ihrem Kind allzu schnell eine Alternative anbieten, wenn es etwas nicht mag. Sie fügt an: «Eltern müssen sich jedoch bewusst sein, dass die Gewöhnung an neue Geschmäcker Zeit braucht.»
Cool bleiben, wenn das Kind nicht isst
Eltern sollten ihr Kind nicht zwingen, etwas zu essen, was es nicht mag. Zwang führt in der Regel zu Gegenwehr und schliesslich zu Machtkämpfen am Tisch. «Das kann allen Beteiligten gehörig den Appetit verderben», sagt Stéphanie Bieler, «Vorlieben sind nun mal verschieden. Wir Erwachsene möchten ja auch nicht gezwungen werden, etwas zu essen, was wir nicht mögen.» Die Fachfrau rät Eltern, gelassen und geduldig zu bleiben, wenn ihr Kind nicht isst. Gut ist, wenn sie es dazu motivieren können, ein neues Lebensmittel wenigstens zu probieren. «Wenn ihm dieses partout nicht schmeckt, soll es den Bissen aber auf den Tellerrand legen dürfen», ergänzt die Ernährungsberaterin. Allerdings sollten Eltern nicht sofort aufgeben, sondern ihrem Kind das neue Lebensmittel immer wieder mal in einer anderen Form anbieten, Gemüse zum Beispiel roh als Salat anstatt gedämpft. Werden ungeliebte Speisen sofort vom Menüplan gestrichen, kommt das Kind nicht mehr in Kontakt mit ihnen und kann sie langfristig nicht schätzen lernen.
Selbstregulation
Kinder haben ein angeborenes Gespür dafür, welche und vor allem wie viel Nahrung sie brauchen. Werden sie zum Essen gedrängt, kann dies das Vertrauen in ihr Empfinden stören. «Wenn Eltern ihrem Kind die Möglichkeit lassen, auf sein Hunger- und Sättigungsgefühl, aber auch auf seine Vorlieben und Abneigungen zu achten, trägt dies zum Erhalt seiner angeborenen Selbstregulation bei», erklärt Stéphanie Bieler. Eltern dürfen ausserdem nicht vergessen, dass manche Speisen für ihr Kind vielleicht viel intensiver schmecken als für sie.
So besser nicht
Manche Eltern versuchen, ihr Kind mit Belohnungen, Bestrafungen oder Drohungen dazu zu bringen, etwas zu essen, was es nicht mag. Sätze wie «Wenn du den Spinat isst, bekommst du nachher ein Dessert» oder «Wenn du die Zucchetti nicht isst, gibt es nachher kein Dessert für dich!» haben am Esstisch nichts zu suchen. Sie führen zu Machtkämpfen. Wenn ein Dessert geplant ist, sollen alle am Tisch davon essen dürfen, unabhängig davon, ob der Spinat oder die Zucchetti gegessen wurden oder nicht.
Monika Strauss rät Eltern auch davon ab, ihr Kind ständig zum Essen aufzufordern oder für jeden geschluckten Bissen zu loben. Ebenfalls nicht sinnvoll sei es, das Kind mit einem Spielzeug oder einem ganzen Unterhaltungsprogramm zum Essen zu bewegen. Sie weiss: «Solche Muster lassen sich später nur schwer abgewöhnen.»
Problem Snacking
Manche Kinder essen zu den Hauptmahlzeiten fast nichts, verlangen zwischendurch aber immer wieder meist kalorienreiche Snacks. Das kann negative Konsequenzen haben: Die Ernährung wird schnell unausgewogen, süsse Snacks schaden den Zähnen, und nicht zuletzt tangiert dieses Essverhalten auch das soziale Leben. Stéphanie Bieler dazu: «Gemeinsame Mahlzeiten am Tisch sind mehr als blosse Nahrungsaufnahme: Sie ermöglichen auch den Austausch und das Erleben der Gemeinschaft in der Familie.» Sie betrachtet es als wichtige Aufgabe der Eltern, zu bestimmen, was, wann und wo gegessen wird. Ideal seien drei Hauptmahlzeiten und bei Bedarf je eine kleine Zwischenmahlzeit am Vor- und am Nachmittag. Mehr als fünf Mahlzeiten seien in der Regel auch für Kinder nicht notwendig.
Erwachsene beeinflussen Kinder beim Essen
Eltern und andere Bezugspersonen müssen sich bewusst sein, dass Kinder am Tisch in erster Linie durch Imitation ihres Verhaltens lernen: Was die Eltern auf dem Teller haben, wollen auch die Kleinen probieren. Essen die Grossen mit Messer und Gabel, wollen auch die Kinder dies versuchen. Genau so funktioniert es aber auch mit unerwünschtem Verhalten: Isst die Mama kein Gemüse oder klopft der Onkel vermeintlich lustige Sprüche wie «Das Grünzeug überlassen wir den Kaninchen, gell Philipp?», wird mit vollem Mund gesprochen oder verlassen die Erwachsenen ständig den Tisch, dürfen sich die Eltern nicht wundern, wenn ihr Kind dieses Verhalten übernimmt. Kinder halten uns unbarmherzig den Spiegel vor, was unsere Essgewohnheiten und das Verhalten am Tisch betrifft. Deshalb empfiehlt Stéphanie Bieler: «Eltern sollten sich am Tisch so verhalten, wie sie es von ihrem Kind wünschen.»
Abwechslung tut gut
Eine möglichst breite, abwechslungsreiche Lebensmittelauswahl versorgt den Körper am besten mit allen wichtigen Nähr- und Schutzstoffen. Das in jungen Jahren erlernte Verhalten wird oft bis ins Erwachsenenalter beibehalten. Kinder, die abwechslungsreich essen, werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene tun und so einen wichtigen Beitrag für ihre Gesundheit leisten.
Soll unser Kind aufessen, was es sich geschöpft hat?
Beim Essen gilt: Sie bestimmen, was auf den Tisch kommt, Ihr Kind, wie viel es davon isst. Es hat ein gutes Hunger- und Sättigungsgefühl, auf das Sie vertrauen können. Die verzehrten Mengen können dabei von Tag zu Tag schwanken. Wenn Ihr Kind noch Mühe hat, die Menge richtig einzuschätzen, kann es hilfreich sein, mit ihm die Vereinbarung zu treffen, dass es erst nur wenig schöpft und sich später nochmals bedient. Zwingen Sie es nie, den Teller leer zu essen. Sonst wird es bald nicht mehr spüren, wann es satt ist.
Haben Sie gewusst,
dass eine vielseitige und abwechslungsreiche Ernährung in der Schwangerschaft und der Stillzeit dazu beiträgt, dass ein Kind weniger heikel wird? Es kommt bereits im Fruchtwasser und später über die Muttermilch mit verschiedenen Geschmäckern in Kontakt. Vertraute Geschmäcker wird es später eher akzeptieren.
Vier Tipps und Tricks: Wenn das Kind nicht isst
- Streichen Sie ein Lebensmittel, das Ihr Kind nicht isst, nicht sofort vom Menüplan. Ein Kind muss ein Lebensmittel 10- bis 15-mal probieren oder mindestens im Mund gehabt haben, bis es den neuen Geschmack mag. Tut es dies nicht, sollten Sie es aber nicht zum Essen zwingen.
- Bieten Sie Lebensmittel in verschiedenen Zubereitungsarten an, Gemüse z.B. in einer Suppe anstatt roh.
- Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und seien Sie offen für Neues.
- Bleiben Sie am Esstisch gelassen und vermeiden Sie Machtkämpfe und Druck.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.