In den ersten Lebensjahren haben Kinder noch kein Zeitverständnis. Sekunde, Minute, Stunde oder Tag sind für sie nichtssagende Begriffe.
Mit Aussagen wie «In fünf Minuten essen wir» oder «Morgen gehen wir in den Zoo» kann ein Kind in seinen ersten drei Lebensjahren noch nichts anfangen. Erst zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr entsteht ein gewisses Verständnis für die Zeit. «Dieses basale Zeitverständnis hat mit den metrischen Zeitbegriffen aber noch nichts zu tun», erklärt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital in Zürich. Erst im Schulalter kann sich ein Kind vorstellen, wie lange eine bestimmte Zeiteinheit dauert.
Zeit verstehen
Bis zum vierten Lebensjahr sind Kinder noch nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse hintanzustellen. Ihre eigenen Wünsche stehen im Zentrum. Sie können sich nicht in ihr Gegenüber versetzen und dessen Absichten verstehen. «Mit vier Jahren entwickelt das Kind eine Fremdwahrnehmung, die es ihm erlaubt, sich in die Gedanken von anderen hineinzuversetzen und seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen», sagt Oskar Jenni. Diese Entwicklungsschritte gehen mit der Entwicklung des Zeitverständnisses einher. Im Gegensatz zu einem zwei- oder dreijährigen Kind kann ein vierjähriges Kind leichter akzeptieren, dass der Tisch nach dem Essen zuerst abgeräumt werden muss, bevor man darauf basteln kann.
Die Gegenwart zählt
Kleinkinder leben im Jetzt. Sie können sich noch nicht in die Vergangenheit versetzen und staunen, wenn ihnen die Eltern von ihrer Kindheit erzählen und sie realisieren, dass Erwachsene auch mal klein waren. Deshalb können Kinder in den ersten Lebensjahren noch nicht schildern, was sie den ganzen Tag in der Krippe oder im Kindergarten erlebt haben. Diese Fähigkeit entwickelt das Kind erst, wenn es eine grundlegende Vorstellung von Zeit hat.
Wenn Zeit zum Streitpunkt wird
Interview mit PD Dr. Oskar Jenni, Leiter Abteilung Entwicklungspädiatrie, Kinderspital Zürich
Oft führt das Fehlen des Zeitverständnisses zu Diskussionen zwischen Kindern und Eltern. Warum?
Um angemessen mit einem Kleinkind umzugehen, müssen die Eltern wissen, was ihr Kind über die Zeit weiss. Gerade wenn Kinder morgens trödeln, reagieren manche Eltern ungehalten. Sie empfinden das Trödeln als Provokation und ärgern sich. Das Kind versteht aber nicht, weshalb es sich beeilen sollte. Es ist noch nicht fähig, die Absichten der Eltern zu verstehen und seine eigenen Wünsche zurückzustellen. Aussagen wie «Jetzt mach mal vorwärts. In zehn Minuten fährt der Bus» bringen gar nichts.
Was wäre denn sinnvoller?
Dem Kind helfen immer gleich bleibende Handlungsabläufe. So können die Eltern Zeitgeber setzen. Das Kind versteht dann, dass es Frühstück gibt, wenn es angezogen ist, und dass es Schuhe und Jacke anziehen muss, wenn die Zähne geputzt sind. Schon Säuglinge können sich eine Vorstellung von bestimmten Abläufen machen. Wirkungsvoll sind bei vielen Kindern auch Wettbewerbe, z.B. nach dem Motto «Wer hat die Jacke schneller angezogen?». Ab dem vierten Lebensjahr können Eltern dem Kind auch erklären, dass es bereit sein muss, wenn der grosse Zeiger der Uhr an einem bestimmten Punkt angelangt ist.
Wann sollten die Eltern ihrem Kind etwas über die Zeit beibringen?
Bis zum Schulalter ist das nicht sinnvoll – ausser das Kind interessiert sich von sich aus für die Uhr. Bis zum Kindergartenalter sind Zeitangaben wie «Du musst noch zweimal schlafen, dann kommt die Grossmama» verständlicher als «Übermorgen kommt die Grossmama».
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.