Kein Nahrungsmittel wirft in der Kinderarztpraxis mehr Fragen auf als die Milch. Der Experte George Marx nimmt Stellung.
Welche Vorteile hat Muttermilch wirklich?
Muttermilch hat verschiedene positive Effekte auf das Kind. Sie enthält gesundheitsfördernde Bakterien, wie zum Beispiel Laktobazillen reuteri, und Immunglobuline (Antikörper), die einen gewissen Schutz vor Infektionen bieten. Muttermilch reduziert beispielsweise das Risiko von akuten Mittelohrentzündungen. Allerdings spielt hier neben den Inhaltsstoffen der Milch auch die Tatsache eine Rolle, dass die Ohren durch das Stillen besser belüftet werden. Gestillte Kinder erkranken seltener an einer Magen-Darm-Grippe. Das Risiko, am plötzlichen Kindstod zu sterben, ist für sie zudem geringer als für nicht gestillte Kinder. Stillen reduziert auch das Risiko für Fettleibigkeit und Diabetes Typ 2 im späteren Leben. Verantwortlich dafür ist der optimale Eiweissgehalt der Muttermilch, der sich dem Bedarf des Babys laufend anpasst. Wird der Säugling älter, sinkt sein Eiweissbedarf. Schoppenmilch hat einen höheren Eiweissgehalt als Muttermilch. Gestillte Kinder leiden seltener an Neurodermitis. Die in der Muttermilch enthaltenen essenziellen Fettsäuren wirken sich positiv auf die geistige Entwicklung von Frühgeborenen aus. Ob dies auch auf Termingeborene zutrifft, ist noch nicht geklärt. Kontrovers diskutiert wird der Einfluss der Muttermilch auf das Risiko für Asthma und Allergien. Dennoch empfehle ich Eltern, die selbst an Allergien leiden, das Stillen.
Ist Muttermilch die beste Nahrung für ein Baby?
Ja, sie enthält alle Nährstoffe, die ein Kind in den ersten Lebensmonaten braucht, und passt sich dem Bedarf des Kindes laufend an. Mütter sollen aber kein schlechtes Gewissen haben, wenn es mit dem Stillen nicht klappt. In der Sprechstunde erlebe ich immer wieder, dass Mütter, die nicht gestillt haben, sich für Erkrankungen ihres Kindes verantwortlich fühlen. Heute ist Schoppenmilch aber ein sehr guter Ersatz für Muttermilch.
Ab wann sind Kuhmilch und Milchprodukte für Babys geeignet?
Sie dürfen frühestens ab dem 7. Monat gegeben werden.
Stärkt Milch die Knochen?
Milch und Milchprodukte enthalten Kalzium, das für den Aufbau von Knochen und Zähnen wichtig ist. In skandinavischen Ländern, in denen viel Kuhmilch getrunken wird, hat man aber gesehen, dass Knochenschwund dort häufiger auftritt als zum Beispiel in Asien, wo die Menschen wenig Milch trinken. Die Entstehung von Osteoporose hängt also nicht allein vom Milchkonsum ab, sondern auch von der Bewegung und der Versorgung mit den Vitaminen D und K1. Beide Vitamine beeinflussen die Aufnahme von Kalzium im Darm und sorgen dafür, dass es zu den Knochen transportiert und dort eingelagert wird. In Asien bewegen sich die Menschen mehr im Freien. Unter dem Einfluss der Sonne produziert der Körper Vitamin D. Ausserdem essen die Menschen dort mehr Kohlgemüse, zum Beispiel Pak Choi, das viel Vitamin K1 enthält.
Was ist eine Kuhmilcheiweissallergie?
Milch enthält verschiedene Eiweisse, die bei manchen Kindern eine allergische Reaktion auslösen können. Dazu gehören Hautausschlag, Nesselfieber, Atemprobleme, Asthma und im schlimmsten Fall ein anaphylaktischer Schock, der zu Kreislaufversagen führen kann. Diese Form der Kuhmilcheiweiss-Allergie tritt sehr selten auf. Von einer zweiten Form sind hingegen etwa zwei Prozent der Kinder, auch gestillte, betroffen. Sie führt zu Koliken, Durchfall, Blut im Stuhl, einer Gedeihstörung und vermehrtem Aufstossen. In der Regel wächst sich diese Form der Kuhmilcheiweiss-Allergie aber im ersten Lebensjahr aus. Stillenden Müttern, deren Kind davon betroffen ist, wird empfohlen, sich frei von Kuhmilch- und Sojaeiweiss zu ernähren. Für nicht gestillte Kinder, die an dieser Allergie leiden, gibt es spezielle Arten von Säuglingsmilch. Diese enthalten entweder keine allergieauslösenden Eiweisse oder nur kleine Teilchen davon, die keine allergische Reaktion auslösen können.
Warum vertragen manche Menschen keine Milch?
Milch und Milchprodukte enthalten Milchzucker, fachsprachlich Laktose genannt. Dieser Zucker wird vom Enzym Laktase gespalten, das im Dünndarm gebildet wird. Manche Menschen produzieren zu wenig Laktase, so dass die Laktose unverdaut in den Dickdarm gelangt und dort das Gas Kohlenstoffdioxid bildet. Betroffene leiden an Bauchschmerzen, Koliken, Völlegefühl, Blähungen, Durchfall und Übelkeit. Dieses Problem nennt man Laktoseintoleranz. Dass zu wenig Laktase gebildet wird, kann genetisch bedingt oder die Folge einer entzündlichen Erkrankung im Darm sein. Die genetische Veranlagung wirkt sich äusserst selten schon im Säuglingsalter aus, sondern macht sich erst im Jugendalter bemerkbar. Würden schon Säuglinge an einer Laktoseintoleranz leiden, hätte die Menschheit nicht überlebt, denn auch die Muttermilch enthält Milchzucker. Bei Babys und Kleinkindern kommen als Ursache für eine Laktoseintoleranz häufiger entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Zöliakie oder auch eine Magen-Darm-Grippe in Frage. Erholt sich das Kind von der Magen-Darm-Grippe, verschwindet auch die Unverträglichkeit.
Kann man Laktoseintoleranz behandeln?
Verträgt ein Kind nachweislich keinen Milchzucker, empfehle ich eine laktosearme Ernährung. Schon Kleinkinder kann man Laktase in Form von Tabletten einnehmen lassen, so dass ihnen der Milchzucker keine Probleme bereitet. Diese Massnahme kann sinnvoll sein, wenn ein Kind zu einer Geburtstagsparty eingeladen ist und unbeschwert von allem essen will.
Wie sinnvoll sind laktosefreie Milchalternativen für Kinder in den ersten Lebensjahren?
Davon rate ich klar ab. Eine Umstellung auf laktosefreie oder -arme Alternativen ist nur dann sinnvoll, wenn eine Laktoseintoleranz nachgewiesen ist. Diese Produkte können einer Laktoseunverträglichkeit nicht vorbeugen.
Welche Kuhmilch ist die beste für Kinder?
Ideal ist pasteurisierte Bio-Vollmilch. Sie enthält viele Omega-Fettsäuren, wenig Antibiotika und keine Hormone. Manche Kinder vertragen jedoch teilentrahmte Milch besser. Von Rohmilch rate ich für die ersten drei Lebensjahre ab, da sie Bakterien enthält, die Beschwerden verursachen können.
Milch kann ein Kind nie zu viel trinken, oder?
Das stimmt nicht. Kinder, die sich vorwiegend von Milch ernähren, haben oft einen Eisenmangel und leiden an Blutarmut. Dieses Problem wird dadurch verursacht, dass das Kalzium in der Milch mit Eisen einen Komplex bildet, der vom Darm nicht aufgenommen werden kann. Kinder, die sich vor allem von Milchschoppen ernähren, haben oft keinen Hunger und essen deshalb am Tisch kaum etwas. Das führt über kurz oder lang zu Mangelerscheinungen.
Ab wann sollte ein Kind nachts keinen Schoppen mehr trinken?
Ab dem zweiten, spätestens ab dem dritten Lebensjahr. Eltern sollten nicht vergessen, dass der in der Milch enthaltene Milchzucker die Zähne genauso schädigt wie Haushaltszucker. In der Nacht ist die Kariesgefahr höher, weil sich weniger Speichel bildet, der Karies entgegenwirkt.
Worauf müssen Eltern achten, wenn sie bewusst auf Kuhmilch und Milchprodukte verzichten oder ihr Kind diese ablehnt?
Wichtig ist, dass das Kind ausreichend mit Kalzium versorgt wird. Kalzium ist ein wichtiger Bestandteil von Knochen und Zähnen. Es stabilisiert die Zellmembran, erleichtert die Übertragung von Reizen im Nervensystem und ist notwendig für die Blutgerinnung. Eine Unterversorgung kann das Wachstum des Kindes verzögern.
Kalzium ist in Kohlgemüse, Vollkornprodukten und Mineralwasser enthalten, allerdings nicht in jedem Mineralwasser in gleicher Menge. Ein Blick auf die Etikette lohnt sich. Bei pflanzlichen Milchalternativen wie Hafer- oder Mandeldrinks sollte man Produkte bevorzugen, die mit Kalzium angereichert sind.
So viel Milch und Milchprodukte braucht das Kind pro Tag
Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE empfiehlt ab dem 7. Monat 0 bis 1x 50–100 g Joghurt oder Milch, ab dem 10. Monat 0 bis 1x 100 g Joghurt oder Milch, ab dem 13. Monat 3 Portionen pro Tag (1 Portion entspricht 1 dl Milch oder Joghurt, 150 ml Folgemilch, 15 g Hartkäse oder 30 g Weichkäse). Für Kinder zwischen 2 und 6 Jahren sind es 3–4 Portionen pro Tag. In diesem Alter kann eine Portion auch aus 100 g Quark oder Hüttenkäse bestehen.
Kinderernährung: Expertenwissen für den Alltag. George Marx, Andrea Mathis, Karger Verlag, 2020.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.