Bei manchen Frauen hinterlässt die Geburt seelische Spuren, die einer Verarbeitung bedürfen.
Internationale Untersuchungen kommen zum Schluss, dass etwa ein Drittel der Mütter die Geburt als traumatisch erleben. Die Zahlen dürften in der Schweiz ähnlich sein. Von diesen Frauen entwickelt etwa die Hälfte in den ersten Wochen nach der Geburt eine traumatische Stressreaktion, welche bei vier Prozent der Frauen in einer posttraumatischen Belastungsstörung mündet. Ebenso stellt eine traumatisch erlebte Geburt ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Postpartalen Depression dar.
Gebärende habe Mühe mit Notfall-Kaiserschnitt
Laut der Psychotherapeutin Claudine Haus aus Zürich, die sich auf das psychische Wohlbefinden von Frauen und Paaren rund um die Familiengründung spezialisiert hat (www.familie-entsteht.ch), können verschiedene Faktoren dazu führen, dass die Geburt zu einem traumatischen Erlebnis für die Frau wird. Sie erklärt: «Oft sind unerwartete Geburtsverläufe wie ein ungeplanter Geburtseingriff, zum Beispiel ein Notfall-Kaiserschnitt, dafür verantwortlich. Bei manchen Frauen ist es das Erleben von körperlicher oder psychischer Gewalt seitens des Geburtspersonals, was die Geburt als traumatisch erleben lässt.»
Ein Herztonabfall macht Angst
Der Gesundheitszustand des Kindes während der Geburt spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. So erleben einige Gebärende einen plötzlichen Herztonabfall bei ihrem Kind als sehr bedrohlich, obgleich ein solcher bei vielen Geburten auftritt und nicht zu Komplikationen führen muss. Entscheidend ist, wie die Frau die Geburt subjektiv erlebt. Hierzu zählen Gefühle der Hilflosigkeit, des Schreckens, des Ausgeliefertsein sowie eine wahrgenommene Bedrohung am Leben oder der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder dem Ungeborenen.
Emotionale Betreuung während der Geburt
Eine Untersuchung von Claudia Meier Magistretti von der Hochschule Luzern hat gezeigt, dass sich Gebärende in der Schweiz medizinisch sehr gut aufgehoben fühlen. Mängel bestehen jedoch bei der emotionalen Betreuung während und nach der Geburt. Da Hebammen in Spitälern aufgrund ihres Schichtplans meist nicht während der ganzen Geburt und auch nicht permanent anwesend sein können, fühlen sich manche Frauen im Gebärsaal alleingelassen. Einige nehmen das Krankenhauspersonal als unbeteiligt, gefühllos oder sogar als rücksichtslos wahr.
Andere wiederum haben während des Geschehens das Gefühl, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Sie fühlen sich überrumpelt oder entwürdigt. Problematisch ist auch, wenn die Realität stark von der Vorstellung abweicht, die sich die Frau von der Geburt gemacht hat. Medienberichte über prominente Mütter, die am Tag nach der Geburt perfekt frisiert, gestylt und überglücklich die Klinik verlassen, können dazu beitragen, dass Gebären als ein Spaziergang wahrgenommen wird.
Tatsache ist, dass jede Frau anders auf Herausforderungen reagiert, diese unterschiedlich interpretiert und andere Bewältigungsstrategien nutzt. «Hat die Gebärende das Gefühl, in einer aussichtslosen Situation zu stecken, kann sie oft nicht auf Strategien zurückgreifen, die ihr zuvor in Stresssituationen geholfen haben», erklärt Claudine Haus. Eine aus Sicht des Geburtspersonals normal verlaufende Geburt könne deshalb als bedrohlich empfunden werden, auch wenn es nicht zu einer medizinischen Notsituation kommt.
Geburtstrauma hat Folgen
Nach einer als traumatisch erlebten Geburt geraten viele Frauen aus der Spur und haben Mühe, zu begreifen, was ihnen widerfahren ist. Angst- und Bedrohungsgefühle halten an, obwohl die Gefahr vorüber ist. Als besonders belastend empfinden sie das Wiedererleben bestimmter Phasen der Geburt, zum Beispiel in heftigen Albträumen, aber auch in Form von Flashbacks tagsüber. Gleichzeitig vermeiden es viele Betroffene, über die Geburt zu sprechen oder meiden Situationen, die sie an die Geburt erinnern könnten. Die psychische Anspannung führt zu körperlichen Symptomen wie Schwitzen, Herzrasen oder Schlafstörungen. Betroffene sind reizbarer und schreckhafter als normal und ziehen sich zurück. Das psychische Befinden der Mutter wirkt sich auch auf die Beziehung zum Baby und zum Partner aus. Nach einer als traumatisch erlebten Geburt bräuchten Mütter Ruhe, Trost und Geborgenheit und sind deshalb auf die Unterstützung durch den Partner angewiesen. Oft fühlen sich die Väter durch die hohen Ansprüche aber überfordert. Manche haben auch Mühe, ihre Partnerin zu unterstützen, weil sie wie ausgewechselt erscheint. Der eigene Heilungsprozess und die Gestaltung des Alltags mit Baby fordern die Mütter jedoch so sehr, dass sie kaum noch die Kraft haben, sich um die Partnerschaft zu kümmern, was zu Kränkungen und Missverständnissen führen kann.
Beim grössten Teil der Mütter, welche die Geburt als traumatisch erlebt haben, verschwinden die Symptome nach wenigen Wochen. Halten sie aber länger an, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Tabuthema Geburtstrauma
Viele betroffene Frauen sprechen nicht über ihr Problem. Das hängt auch mit den gesellschaftlichen Erwartungen zusammen, die an eine Mutter von einem gesunden Neugeborenen gestellt werden: Gefühle von Dankbarkeit und Glück sollten demnach im Vordergrund stehen. Ob eine Frau über das Erlebte spricht, hängt davon ab, wie unterstützend sie ihr Umfeld wahrnimmt. Claudine Haus erklärt: «Das anfängliche Verständnis für die betroffenen Mütter schwindet aufgrund von Ratlosigkeit oft mit der Zeit.» Unbedarfte Kommentare, wie zum Beispiel «Wenigstens seid ihr alle gesund», können sehr verletzend wirken und lassen bei der Mutter das Gefühl entstehen, dass andere ihre Not nicht wahrnehmen. Manche Mütter sprechen nicht offen darüber, weil sie ihr Umfeld nicht belasten wollen, denken, dass niemand dafür Verständnis hat, oder weil sie Angst davor haben, dass sie die Kontrolle über ihre Emotionen verlieren könnten. Darauf sensibilisierte Wochenbetthebammen und Mütterberaterinnen können wichtige Türöffner sein. Claudine Haus empfiehlt involvierten Fachpersonen ein direktes und offenes Nachfragen bei den frischgebackenen Müttern zu ihren Gedanken und Gefühlen rund um die Geburt. Wenn gezielt gefragt und erläutert wird, dass manche Frauen die Geburt traumatisch erleben, kann das die zuweilen grosse Scham mindern.
Geburtstrauma nicht verdrängen
Nach einer als traumatisch erlebten Geburt verdrängen manche Frauen phasenweise ihre Gefühle, um mit der Situation klarzukommen. Kurzfristig dient dies dem Selbstschutz. Betroffene versuchen, sich so gut wie möglich in ihrer neuen Aufgabe zurechtzufinden. Viele äussern im Nachhinein, dass sie einfach funktioniert, aber nicht richtig empfunden haben. Eine längerfristige Verdrängung eines Geburtstraumas beurteilt Claudine Haus als kritisch: «Dies absorbiert Energie, reduziert die Lebensqualität und birgt das Risiko, dass die Symptome chronisch werden.» Meist wissen die betroffenen Frauen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, über das Erlebte zu sprechen. Die Persönlichkeit, die Lebensgeschichte und das Umfeld der Mutter beeinflussen den Verarbeitungsprozess.
Geburtstrauma behandeln
Wenn eine Mutter nicht von selbst über eine als traumatisch erlebte Geburt hinwegkommt, ist sie auf professionelle Hilfe angewiesen. Ziel der Therapie ist die Orientierung (Was ist da geschehen?), die Stabilisierung (Was hilft mir mit diesen Stressreaktionen der traumatisch erlebten Geburt zurechtzukommen?), die Integration (Wie kann das Erlebte Teil meiner Geschichte werden?), die Akzeptanz (Wie kann ich dies und mich annehmen?) und die Zukunftsausrichtung (Wie komme ich in der Gegenwart an, und wie blicke ich in die Zukunft?). Eine früh einsetzende Nachbetreuung nach einer schwierigen Geburt ist wichtig, damit die Symptome nicht chronisch werden, die Leidenszeit möglichst nicht lange dauert und Probleme in der Mutter-Kind-Beziehung vermieden werden. Wird eine traumatische Geburtsgeschichte nicht verarbeitet, kann das dazu führen, dass die Mutter kein weiteres Kind will oder während der nächsten Schwangerschaft an starken Ängsten vor der Geburt leidet. Aber auch eine Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt, zum Beispiel vor der nächsten Geburt, ist wirksam und sinnvoll.
Selbstvertrauen und Gefühl der Kontrolle zurückgewinnen
Zu Beginn der Behandlung informiert Claudine Haus ihre Klientinnen über die Symptome und den Zusammenhang zwischen der Psyche und den körperlichen Reaktionen. Sie weiss: «Vielen Müttern hilft es bereits, zu realisieren, dass ihr Erleben und Verhalten eine normale Reaktion auf ein abnormales Erlebnis sind.» Sie gibt Raum, um allfällige Versagens- und Schuldgefühle gemeinsam einzuordnen. Unbeantwortete Fragen wie «Wieso ist es so weit gekommen?» führen nicht selten zur Annahme‚ dass die Frau etwas unter der Geburt falsch gemacht hat. Claudine Haus leitet Mütter dazu an, wie sie sich im Umgang mit starken Gefühlen selbst beruhigen können. «Dadurch gewinnen die Frauen das Vertrauen in sich selbst und das Gefühl der Kontrolle zurück, sie fühlen sich selbstwirksam», erklärt die Psychotherapeutin. Nach dieser stabilisierenden Therapiephase wird die traumatische Geburt schonend aufgearbeitet. Claudine Haus bezieht oft Hebammen mit ein (falls gewünscht, die Hebamme, welche die Geburt oder einen Teil davon begleitet hat), um alle Fragen der Betroffenen zum Geburtsverlauf anhand des Geburtsberichts besprechen zu können. So kann die Mutter den Verlauf der Geburt besser verstehen, sie kann Lücken füllen und bekommt ein realistisches Bild vom Handlungsspielraum in der Geburtssituation. Die Beziehung zum Baby und der Alltag in dieser neuen Lebensphase sind ebenfalls ein Thema.
So kann das Umfeld unterstützen:
Hat eine Mutter die Geburt als traumatisch erlebt, sind im Umgang mit ihr folgende Tipps hilfreich:
- Hören Sie der Mutter zu, wenn sie über die Geburt und ihr Befinden sprechen will, bedrängen Sie sie aber nicht.
- Halten Sie die Gefühle aus. Ist dies für Sie schwierig, drücken Sie ihre Mitbetroffenheit aus.
- Die eigene Unsicherheit im Umgang auszudrücken, ist oft die bessere Reaktion. Fragen Sie die Mutter, was ihr am meisten helfen könnte.
- Bieten Sie konkrete Hilfe an, z.B.: «Ich kann für dich einkaufen gehen oder ein Abendessen für euch vorbereiten.»
- Unterlassen Sie Beschwichtigungen oder Kommentare wie: «Was geschehen ist, ist geschehen, du musst dich jetzt auf das Baby konzentrieren.»
- Vergessen Sie den Vater nicht und fragen Sie ihn nach seinem Befinden.
Autorin: Susanna Steimer Miller ist Journalistin und hat sich auf Themen rund um die Schwangerschaft und Geburt sowie die Gesundheit, Ernährung, Entwicklung und Erziehung des Kindes in den ersten fünf Lebensjahren spezialisiert.